Dreiundzwanzig

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Kälte kriecht langsam in meine Glieder und Vogelzwitschern dringt an meine Ohren.
Leicht brummend rolle ich mich zusammen.
Ein paar Minuten döse ich weiter, doch mir wird nicht wärmer, weswegen ich schließlich blinzelnd die Augen aufschlage.
Morgendliches Dämmerlicht dringt durch die Bäume zum Waldboden herab und beleuchtet die Umrisse schwach. Keith scheint das fahle Licht jedoch genug zu sein, denn er sitzt auf der anderen Seite des ausgebrannten Feuers, umringt von mehreren alten Büchern.
Verwirrt setze ich mich auf und reibe mir müde die Augen.
»Warum hast du mich nicht geweckt?«,frage ich verwundert.
»Ich glaube, ich hab was gefunden«,entgegnet er konzentriert, meine Frage komplett ignorierend.
Leicht stöhnend erhebe ich mich von der Isomatte, um zu ihm hinüber zu gehen und mich neben ihm niederzulassen.
»Hast du die ganze Nacht durchgemacht?«,versuche ich es noch einmal, obwohl mir die dunklen Schatten unter seinen Augen schon Antwort genug sind.
»Ich bin alle Bücher von mir und Alysanne durchgegangen, um zu schauen, ob sich ein Hinweis auf Dysia darin befindet«,erklärt er und beantwortet meine Frage damit nur indirekt.
Mein Blick gleitet über die aufgeschlagenen Buchseiten. Sie sind alle mit einer fremdartigen Schrift gefüllt. Die harschen Schriftzeichen scheinen schnell und wütend geschrieben worden zu sein, besitzen zugleich allerdings eine sorgfältige Note, denn die Buchstaben sind immer exakt gleich groß und sehen nahezu überall identisch aus.
Ich kann nicht anders, als die Finger sanft über die Seiten fahren zu lassen. Keine Unebenheiten durchbrechen die Struktur des zarten Papiers und ich spüre einen bekannten Druck in meinem Magen.
»Das ist-«
»Blutsprache. Ich weiß«,vervollständige ich Keiths Satz ohne aufzusehen. Ich spüre es.
Ich sehe aus dem Augenwinkel wie Keith schmunzelt, dann deutet er auf ein anderes Buch.
»Ich denke das hier könnte uns weiterhelfen.«
Meine Aufmerksamkeit wendet sich dem Jungen und dem vergleichsweise schmalen Buch zu.
»Es ist ein Gedicht und ich verstehe nicht alles, aber ich denke es ist über Dysia, auch wenn es nicht direkt erwähnt wird«,erklärt er.
Die harschen Buchstaben in Versform zu sehen wirkt beinahe ein wenig gegensätzlich.
»Die erste Strophe beginnt mit
Abseits von türkisen Spiegeln,
umgeben von blauen Bändern,
dort wo sich treffen,
drei Stränge von Stein«,übersetzt er.
Ich runzele die Stirn.
»Die Strophe hier habe ich nicht ganz übersetzen können, aber irgendetwas mit raue Haut einer Echse und einem grünen Teppich
»Und die letzte Strophe?«,frage ich.
»Im Rücken des steinernen Tiers,
von dessen Widerrist man gute Sicht
auf scheinend heilig' Gründe,
mehr lebt als nur Wasser, Feuer, Luft und Erde.«
Meine Stirn legt sich noch mehr in Falten.
»Es klingt wie ein Rätsel«,murmele ich nachdenklich und ziehe meine Beine an den Körper, um die Arme darum zu legen.
»Ich denke nicht, dass es dafür gemacht ist, den Standort einfach so preiszugeben«,entgegnet Keith - ich brumme nur nachdenklich.
»Sicher, dass es um Dysia geht?«,frage ich unsicher und sehe Keith an,»Ich meine, klar, es geht um einen Ort, aber warum sollte es Dysia sein? Vorallem die letzte Zeile, was soll das überhaupt bedeuten?«
»Erstens, da es von Lubomir Golovko geschrieben wurde, der ein Bluthexer war und weil in der Wesenwelt, vorallem bei den magischen Wesen, Blut inoffiziell als ein fünftes Element angesehen wird«,entgegnet er, was das ganze natürlich wieder wahrscheinlicher macht.
Sehr wahrscheinlich sogar.
»Mhh, okay...«,murmele ich nachdenklich,»Wie war die erste Strophe nochmal?«
»Abseits von türkisen Spiegeln,
doch umgeben von blauen Bändern,
dort wo sich treffen,
drei Stränge von Stein.«
Amber hätte dieses Rätsel geliebt, sie war immer gut darin so etwas aufzulösen.
Abseits von türkisen Spiegeln.
Was für Spiegel?
Ich versuche wie Amber zu denken.
Es ist bezogen auf eine Landschaft. Was kann in einer Landschaft Spiegel darstellen?
Ich ziehe scharf die Luft ein, als mir eine Idee kommt.
»Was wenn die türkisen Spiegel Seen darstellen?«,frage ich und blicke Keith erwartungsvoll an.
»Dann wären die blauen Bänder Flüsse«,spinnt er den Gedanken weiter.
»Und die drei Stränge von Stein Bergkämme?«
Keith nickt. »Im Rücken des steinernen Tiers«,wiederholt er die Zeile der dritten Strophe.
»Der Berg in dem Dysia liegt«,schlussfolgere ich.
»Von dessen Widerrist man gute Sicht,
auf scheinend heilig' Gründe«,liest er die nächsten Zeilen vor und ich runzele die Stirn.
»Was ist mit den heiligen Gründen gemeint?«,denke ich laut.
Keith zuckt mit den Schultern. »Ich hab keine Ahnung«,entgegnet er und man merkt seiner Stimme an, dass er nicht geschlafen hat.
Ich ziehe den Rucksack zu uns, um die Karte herauszunehmen und über den Büchern auszubreiten.
»Abseits von Seen, aber umgeben von Flüssen«,murmele ich über die Karte gebeugt, während mein Finger über das Papier fährt, dort wo wir Dysia vermuten.
Doch dort sind nahezu überall Seen und Flüsse. Wie soll sich der Bergkamm unter dem Dysia liegt abheben?
»Scheinend heilig' Gründe«,meint Keith nachdenklich, mehr zu sich selbst als zu mir.
Meine Augen fahren die Karte in dem fahlen Licht ab.
Die Gebirgsgebiete in Colorado sind weitläufig und unübersichtlich. Überall liegen Seen oder Flüsse und in der Karte sind viele Zahlen sowie Schriftzüge eingezeichnet, die es schwer machen nach etwas unbekanntem zu suchen.
Als wir nach mehr als fünf Minuten Suche noch nichts entdeckt haben und meine Augen beginnen zu schmerzen erhebe ich mich seufzend. »Lass uns heute Abend weitersuchen, jetzt ist es Zeitverschwendung«,meine ich zu Keith, ernüchtert von dem kleinen Rückschlag.

Ich kann ihn nicht dazu überreden noch eine Stunde zu Schlafen, weswegen wir gleich, nachdem wir eine weitere Dose geleert haben, aufbrechen. Die Spuren des Lagerfeuers verwischen wir sorgfältig.
Es gefällt mir zwar nicht, dass Keith nach dem anstrengenden Tag gestern keine Minute Schlaf bekommen hat, doch ändern kann ich es nicht und wir müssen wirklich weiter.
Wir machen über den Tag verteilt mehrere Pausen, da Keith schnell erschöpft und ich, wie auch am Vortag, nicht in Bestform bin.
Meine Knie beginnen nach einer Weile wieder wehzutun und meine Glieder schmerzen.
Die ersten Zeichen der Dämmerung lösen in mir gleichermaßen Sorge und Erleichterung aus.
Wir haben deutlich weniger Meilen als gestern zurücklegen können und ich habe Angst, dass die Lyceray unsere Spur aufnehmen könnten.
Als kaum noch Licht zum Waldboden vordringt beschließen wir unser Lager aufzuschlagen.
Ohne Lichtquelle bringt weiterziehen nichts.
Heute sammle ich das Holz, da Keith die Isomatte ausbreitet und Essen herausholt.
Er versucht es sich vielleicht nicht anmerken zu lassen, doch ich merke wie erschöpft er ist.
Da ich nicht zaubern kann, entzündet er wieder das Feuer und ich ertappe mich dabei, wie ich die Worte in der alten Sprache im Kopf wiederhole.
Erenÿ reysa.
»Ich übernehme die erste Wache«,stelle ich klar, nachdem wir schweigend gegessen haben, auch wenn ich mir sicher bin, dass Keith nichts anderes beansprucht hätte.
Er nickt nur müde und streckt sich auf der Isomatte aus.
»Gute Nacht«,murmelt der Junge und ich glaube, dass er noch bevor ich etwas erwidern kann, eingeschlafen ist.
Dennoch murmele ich ein 'Gute Nacht' zurück und setze mich leise auf die andere Seite des Lagerfeuers.
Das Messer, das Keith einem der toten Lyceray abgenommen und mir gegeben hatte, stecke ich neben mir in die weiche Erde.
Mein Blick verfolgt die orangen Flammen, die sich träge gen Himmel recken.
Das Leben was ich noch vor ein paar Tagen geführt habe fühlt sich so weit entfernt an in diesem Moment. Ich muss mehr als einen Moment überlegen was heute für ein Tag ist.
Nur drei Tage ist es her, dass Alysanne mich abgeholt hat.
Yesko fehlt mir.
Das Gefühl trifft mich wieder so plötzlich, ich wünschte er wäre hier.
Er macht sich bestimmt Sorgen.
Doch ich denke die Sorge ist nicht mehr unbegründet.
Sobald meine Gedanken unser Problem streifen hole ich die Karte wieder aus Keiths Rucksack und beginne im Feuerschein weiter nach einem Anhaltspunkt zu suchen. In Gedanken wiederhole ich immer wieder die Worte des Gedichts.
Scheinend heilig' Gründe...
Es dauert lange bis ich etwas finde, ich denke ab und zu nicke ich sogar ein. Doch als es dämmert streifen meine Augen einen Schriftzug der in meinem Magen ein starkes Kribbeln verursacht.
»Keith«,stoße ich aus, meine Stimme zu laut für meine eigenen Ohren nach der Stille der letzten Stunden. Meine Augen nehme ich nicht von der Karte, um es nicht wieder zu verlieren. Von gegenüber kommt nur ein Brummen. »Keith!«,meine ich erneut, energischer, woraufhin ein Rascheln von Kleidung ertönt. »Was?«,kommt rau und trocken zurück.
»Ich glaube ich hab etwas gefunden«,erkläre ich aufgeweckt. Erneut ertönt ein Rascheln, als er sich aufrappelt und zu mir hinüber kommt. »Wo?«,murmelt er, während er sich neben mich hockt und ich lege meinen Finger auf die Stelle, an die mein Blick gekettet ist.
Mount of the Holy Cross.
Keith nickt leicht neben mir.
»Im Rücken des steinernen Tiers,
Von dessen Widerrist man gute Sicht,
Auf scheinend heilig' Gründe
«,wiederholt er das Gedicht leise.
Meine Augen fahren die Bergkämme um das Heilige Kreuz ab.
Im Osten davon liegt eine Ansammlung von Seen, dort also nicht.
Im Westen des Berges liegt ein großes Tal mit einem Fluss, was ihn von einer weiteren Kette von Bergen trennt. Mehrere kleine Flüsse entspringen in den Bergen und münden in den Fluss im Tal.
Keiths Finger erreicht die Formation zeitgleich mit meinen Augen.
Drei aufeinander treffende Bergkämme.
Wir werfen uns einen wissenden Blick zu.
Dort liegt Dysia.

Die Bluthexen I - Denn Blut ist gefährlichOnde histórias criam vida. Descubra agora