Dreiunddreißig

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Etwas, das ich an Keith schätze, ist sein Schweigen.
Als ich aufgewacht bin, lag ich noch immer Schulter an Schulter mit ihm, sein Arm aber hatte sich in der Nacht zurückgezogen.
Er verlor kein Wort über das gestern. Ich denke er weiß, dass wenn ich mit ihm darüber reden wollte, ich es tun würde.
Aber ich tue es nicht.
Wir schlafen ziemlich lang und erst gegen halb Eins haben sich alle am Frühstückstisch versammelt. Willas macht Rührei und Toast.
Es ist entgegen meiner Erwartungen nicht seltsam ihn zu sehen nach dem Kuss gestern. Nachdem ich erfahren hatte, dass er ein Wolfsherr ist, war sein Anblick weitaus eigenartiger.
Die Stimmung ist ruhiger als die Tage zuvor, doch auch heute ist Nettles wieder lebhaft.
Das Rührei hebt meine Laune ein wenig, aber trotzdem fühle ich mich immer noch etwas betäubt vom gestrigen Abend.
Das ist wohl auch der Grund, warum ich zum Frühstück weniger beitrage, als die letzten drei Tage.
Trotz der etwas verschlafenen Stimmung bleiben wir noch ein wenig sitzen, selbst nachdem wir alle aufgegessen haben. Es scheint so, als wolle keiner aufstehen, um den Tag anzugehen, weil es auch der Tag ist an dem wir aufbrechen werden.
Schließlich macht Willas den Anfang und beginnt den Tisch abzuräumen. Keith und ich helfen, ehe wir uns auf den Weg nach oben machen, um unsere wenigen Sachen zusammen zu packen. Wir sprechen noch immer nicht viel, sondern suchen schweigend unsere wenigen Habseeligkeiten zusammen. Keith hatte die Karte sowie seine und Alysannes Bücher, die zusammen mit all unseren anderen Sachen vollkommen nass geworden waren im Bad zum Trocknen ausgelegt. Außer ein paar Wasserflecken haben sie keinen Schaden von der unfreiwilligen Dusche davongetragen. Keith verstaut sie wieder sorgfältig in seinem Rucksack, während ich mich anziehe und die letzten Klamotten in meine Tasche quetsche.
Als wir fertig sind schultern wir die Rucksäcke, Keith verlässt das Zimmer ohne sich noch einmal umzusehen, doch ich werfe noch einmal einen Blick zurück.
Dann folge ich ihm.
Willas steht bereits mit Nettles im Flur, den Autoschlüssel in der Hand und die Arme verschränkt. Ich stelle meine Tasche ab und bin gerade dabei meine Schuhe anzuziehen, als sich von draußen ein Motorengeräusch nähert und dann erstirbt.
Augenblicklich spüre ich mein Herz bis zum Hals klopfen und befürchte ein Déjà-vu. Mein Blick springt besorgt zu Keith, der neben mir steht, dann zu Willas.
Der dunkelhaarige Junge hingegen sieht relativ entspannt aus und sieht nur etwas verwundert zu seiner Schwester hinüber.
Keiths Blick kann ich nicht einschätzen, obwohl ich in den letzten Tagen immer mehr gelernt hab seine Mimik stumm zu verstehen. Ich ziehe die Schleife an meinem zweiten, bereits abgetretenen Schuh fest und richte mich auf, als schon Schritte auf der Verandatreppe ertönen. Ein Schlüssel dreht sich in der Tür, welche daraufhin aufgeschoben wird.
Im ersten Moment denke ich Nettles stünde dort, doch dann trifft mich die Erkenntnis, dass es ihre Mutter sein muss. Sie hat die gleichen Locken wie ihre zwei Kinder und die gleichen Gesichtszüge wie Nettles, lediglich durchzogen von wenigen Falten.
Als die Frau gleich vier Personen im Flur stehen sieht, legt sich sichtlich Verwirrung auf ihre Miene. Ihre dunklen Augen legen sich auf Willas und Nettles.
»Was ist hier los?«,fragt sie ernst und gerade heraus, während sie ihre Tasche neben der Tür abstellt und diese schließt. Irgendetwas an ihr behagt mir nicht, aber ich weiß nicht was. Ich trete automatisch ein Stück zu Keith.
»Wolltest du nicht erst Sonntag zurückkommen?«,antwortet Nettles mit einer verwunderten Gegenfrage. Es ist das erste Mal, dass ich in ihren Augen Unbehagen sehe.
Auch in mir steigt eine Mischung von Scham und Sorge auf, die vorerst das seltsame Bauchgefühl zurückdrängt.
»Die restlichen Seminare wurden verschoben, aber was ist hier los?«,fragt Mrs. Felten und wirft einen Blick zu uns hinüber. Ich hab das Bedürfnis ihren dunklen Augen auszuweichen oder mir die Haare ins Gesicht fallen zu lassen.
»Die beiden waren campen und wir haben sie eingeladen den Regen bei uns auszusitzen«,erklärt Willas, der sich rückwärts an eine schmale Kommode gelehnt und die Arme verschränkt hatte. Seine Stimme ist wie immer ruhig, während Nettles immer noch ein wenig beunruhigt wirkt.
Mrs. Feltens Blick legt sich wieder auf uns. Beinahe prüfend mustert sie uns genauer und ich halte unbeabsichtigt die Luft an. Sie will sich gerade wegdrehen, als ein kurzes Blitzen durch ihre Augen huscht und ihr Ausdruck sich verändert, während sie mich genau studiert. Sie sah davor schon ernst aus, doch nun ist ihre Miene grimmig. Sie schnaubt mit einem humorlosen Lächeln und verschränkt die Arme.
»Eine Perez.«
Ein Schauer läuft über meinen Rücken und mein Herz hämmert laut von innen gegen meine Brust. Ihrem Blick begegne ich dennoch hart und regungslos.
»Was?«,erwidert Nettles perplex.
Ihre Mutter lässt mit den Augen nicht von mir ab, während sie spricht. Sie scheint keiner meiner Regungen zu vertrauen.
»Sie sind Bluthexen.«
Durch den direkten Blickkontakt kann ich mit ansehen, wie ihre beinahe schwarzen Iriden von eisblauer Farbe überschwemmt werden.
Ich spüre, wie sich Keith neben mir anspannt. Er tastet nach seinem Messer, doch meine Aufmerksamkeit wechselt zu Nettles, welche uns entsetzt ansieht. In ihren Augen liegt etwas, das ich nicht recht in Worte fassen kann. Eine Mischung aus Schrecken und Ungläubigkeit, aber auch Kränkung und Enttäuschung.
Mein Herz wird schwerer und ich werfe ihr einen entschuldigenden Blick zu, auch wenn ich nicht weiß, wofür ich mich entschuldigen will. Willas Kopf ist leicht gesenkt, aber seine Augen suchen die meinen, wissend und austauschend. Ein angespanntes Knistern liegt in der plötzlich stickigen Luft.
»Wie konntet ihr so blind sein?«,wendet sie sich verachtend an ihre Kinder und wirft nun auch einen Blick zu ihnen. Als sie sieht, dass Willas keineswegs überrascht scheint, verzieht sich ihr Gesicht zu einer empörten Miene.
»Du wusstest es«,knurrt sie überraschend aufgebracht und hasserfüllt. Ich zucke beinahe zusammen, als von draußen aus der Ferne ein Wolfsheulen ertönt.
Nettles wendet den Kopf ebenfalls geschockt  zu dem Jungen, dessen Augen zu mir zurückkehren.
Scheinbar ist das der exakte Moment in dem auch Keith alle Puzzelteile zusammenfügt, denn er weicht fast erschrocken von meiner Seite. Ich reagiere nicht darauf. Dafür ist jetzt nicht die Zeit.
»Sie sind gut«,widerspricht Willas dem Hass seiner Mutter ernst.
Diese wirft schnaubend die Hände in die Luft, ihre Augen noch immer in der Farbe von klarem blauen Eis. »Selbst wenn sie es wären, sie könnten Lyceray genau zu uns führen. Das ist Cassana Perez Tochter, die macht nicht einfach so einen Ausflug in den Wald um zu campen!«
Ich sehe Willas Kiefermuskeln kontrahieren, als er die Zähne fest aufeinander beißt.
»Und was willst du machen? Sie jetzt einfach umbringen?«,fragt er hart und sieht sie direkt an, beinahe herausfordernd.
Sie wirft einen angespannten Blick zu uns.
»Sie sind Bluthexen«,erwidert sie, so als würde das als Erklärung reichen.
»Aber sie haben uns nichts getan«,erwidert Nettles leise. Es ist das erste Mal, dass sie spricht, seit ihre Mutter unser Geheimnis enthüllt hat. Die letzten Minuten hatte sie stumm zu Boden gesehen, doch nun hebt sie den Kopf, um ihre Mutter anzusehen.
In ihrem Blick liegt etwas, das ich nicht ganz erklären kann. Man kann noch immer deutlich die Enttäuschung über der Betrug herauslesen, aber auch einen starken Widerwillen gegenüber ihrer Mutter. Meine Erleichterung verrät mir, dass ich tatsächlich besorgt war, sie würde auf die Seite ihrer Mutter treten.
Die Spannung im Raum ist nun deutlich zu spüren. Mrs. Felten funkelt ihre Kinder wütend an, ihre Augen kalt.
»Geht durch die Hintertür«,weist Willas uns an, ohne den Kopf zu drehen. Das Gesicht ihrer Mutter verzieht sich und ihre Augen glitzern gefährlich auf. Von draußen ertönt wieder ein Heulen.
»Das würde ich nicht tun«,erwidert sie hart, drohend.
Ein Schauer läuft mir über den Rücken, als in Willas Augen ebenfalls eisblaue Farbe fließt.
Ein Blick auf Nettles verrät mir, dass auch sie ihre Kräfte ruft. Willas Ausdruck ist hart, wohingegen Nettles traurig und zerrissen scheint, bei dem Gedanken sich gegen ihre Mutter zu stellen.
»Geht«,wiederholt der Junge grob und reißt mich damit aus meiner Starre. Ich lasse es mir kein drittes Mal sagen. Ich schnappe meinen Rucksack und lege die Finger um Keiths Handgelenk, um ihn in Richtung des Wohnzimmers zu ziehen, in dem sich die Tür zum Garten befindet.
»Erox aelar«,stößt Mrs. Felten aus und es klingt einem Wolfsknurren so ähnlich, dass ich meine Schritte nur noch beschleunige.
Keith folgt mir nach einem ersten perplexen Moment hastig und reißt die Tür auf, um mit mir nach draußen in die kühle Nachmittagsluft zu stürmen. Mit einem dumpfen Knall schlägt sie hinter uns wieder ins Schloss und im gleichen Augenblick beginnen wir zu rennen.

Die Bluthexen I - Denn Blut ist gefährlichWhere stories live. Discover now