Dreißig

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Ich schüttle den Kopf.
Ich kann nicht mit ihm reden, er hätte das alles nicht hören sollen.
Wie lang stand die Tür schon offen?
Mein Herz schlägt immer stärker gegen meinen Brustkorb und ich werfe instinktiv einen Blick hinter mich, zum Wohnzimmer, doch dort ist noch immer alles so dunkel und regungslos, wie als ich heruntergekommen bin.
War die Tür zu diesem Zeitpunkt schon offen?
Hätte ich das wirklich übersehen können?
Ich verfluche mich innerlich für die Unaufmerksamkeit.
Willas blickt mich noch immer an. Ich sehe nur seine Umrisse.
Er nickt mit dem Kopf leicht in Richtung der Veranda und entfernt sich von der Tür.
Ich stehe wie versteinert da und versuche meine Atmung zu kontrollieren.
Eine Hand fährt nervös durch mein Haar und ich zwinge mich zögerliche und widerwillige Schritte in Richtung der Tür zu machen. Willas hat anscheinend keine Zweifel daran, dass ich ihm auf die Veranda folgen würde, denn er hat sich nicht noch einmal umgedreht, um sich dessen zu versichern.
Die Luft draußen ist frisch und geprägt vom Geruch des Regens. Normalerweise würde ich das genießen, doch jetzt ist mir einfach nur übel und die Luft fühlt sich unangenehm kalt an.
Willas sitzt auf einem von zwei Holzstühlen rechts auf der schmalen Veranda. Auf einem kleinen Tisch daneben steht eine Öllampe und wirft einen flackernden, warmen Schein auf den Jungen und die Möbel. Er deutet auf den zweiten Stuhl und ich versuche das Zittern meiner Beine zu reduzieren.
Ich schlinge die Arme um meinen eigenen Körper und gehe langsam, fast ein wenig zeitschindend, hinüber zu ihm und lasse mich in den Holzstuhl sinken.
Ich weiß nicht was ich sagen soll, das Schweigen ist drückend.
Ich darf ihm nichts erzählen. Sowohl wegen des Gesetzes, als auch zu unserem Schutz.
»Also?«,fragt Willas nach einer Weile scheinbar nach einer Erklärung für das, was er gerade gehört hat. Seine Stimme ist wie immer ruhig, gefasst und jetzt auch gedämpft.
Ich meide seinen Blick.
»Ich kann es dir nicht erklären, ich-...«
Ich breche ab und werfe einen nervösen Blick zu ihm.
Zu meiner Überraschung zeichnet sich auf seinem Gesicht der Ansatz eines Lächelns ab.
Meine Augen verengen sich leicht.
»Was?«,frage ich misstrauisch aber auch verwirrt.
»Du musst nicht nervös sein. Das Gesetz wird nur gebrochen, wenn du es einem Menschen erzählst.«
Augenblicklich bin ich aus dem Stuhl aufgesprungen und einen Schritt nach hinten gewichen, ohne die Augen auch nur einen Moment von ihm zu nehmen.
Das kann nicht sein.
Der Junge hebt nur abwehrend die Hände. »Cora, ganz ruhig. Ich bin unbewaffnet.«
Niemand der Magie beherrschen kann ist jemals wirklich unbewaffnet.
»Mein Name ist Miena«,verbessere ich ihn ausdruckslos, während ich ihn mustere.
Ich versuche die Veränderung an ihm zu sehen, irgendetwas neues, ein Hinweis darauf, dass auch er zur Wesenwelt gehört. Ich finde nichts.
Willas nickt. »Miena«,wiederholt er meinen Namen, so als würde er ihn austesten.
Noch immer lassen meine Augen ihn nicht aus dem Blick und ich zögere. Schließlich nehme ich wieder Platz. Hätte er mir etwas tun wollen, hätte er es schon tun können.
Im nächsten Moment schimpfe ich mich idiotisch. Das hier ist doch immer noch der gleiche Willas mit dem ich die letzten zwei Tage verbracht habe. Oder?
»Was bist du?«,frage ich ruhig, aber ich glaube nicht, dass das Misstrauen gänzlich aus meinen Augen verschwunden ist.
»Ein Wolfsherr«,antwortet er immer noch ruhig und ich muss automatisch an einen Werwolf denken, doch Keith sagte Werwölfe gibt es nicht, also muss es einen Unterschied geben.
Mein Blick wandert über seine Gestalt. Er hat sich bereits wieder in seinem Stuhl zurückgelehnt, die Ellenbogen rechts und links auf den Armlehnen, die Finger vor dem Körper verschränkt, gelassen.
»Was ist das?«,frage ich, während ich mich etwas entspanne. Irgendwie missfällt es mir ständig unwissend zu sein, doch ich ignoriere das Gefühl.
»Wir können Wölfe kontrollieren. Gedankenübertragung sozusagen«,erklärt er,»Du bist neu in der ganzen Sache, oder?«
Ich ziehe leicht die Schultern hoch.
»Kann man so sagen«,murmele ich und ziehe die Beine auf den Stuhl und an meinen Körper, um die Arme darum legen zu können.
»Was bist du?«,fragt er und ich zögere.
Nur, weil er auch ein Wesen ist, heißt das nicht, dass er Bluthexen gegenüber wohlgesonnen ist.
Die Worte der Bitiate wiederholen sich in meinem Kopf. Nicht nur die Lyceray sind unsere Feinde.
Ich antworte ihm dennoch.
»Bluthexe«,gebe ich zurück und beobachte seine Reaktion. Er nickt, doch ich nehme ein kurzes Zucken seiner Augenbraue wahr. Überraschung.
»Keith auch?«,fragt er und ich nicke.
»Wart ihr wirklich Campen?«
Ich schüttle den Kopf. »Wir sind auf dem Weg nach Dysia«
Sollte ich ihm das erzählen?
»Allein?«,hakt er nun wirklich überrascht nach.
»Offensichtlich«,murmele ich und sehe starr in das Licht der Öllampe.
Mein Kopf versucht die neu gewonnenen Informationen einzuordnen. Ist es gut? Oder fürchterlich? Sollte ich Angst haben?
Ich weiß nicht einmal, ob er Magie beherrscht. Ich kann ihn plötzlich gar nicht mehr einschätzen.
»Wie kommt es?«,fragt er und ich wünschte Keith wäre hier, denn ich weiß nicht wie ich mich verhalten soll.
Nachdem ich einige Momente nichts erwidert habe, da ich mir unsicher bin, fügt Willas hinzu:»Du musst mir nichts erzählen.«
Ich nicke leicht. Ich sollte ihm auch besser nichts erzählen.
Und doch erzähle ich alles.
Ich fange in der Nacht der Party an, gehe über die anderen Vorfälle bis zu Mums Tod, Alysannes auftauchen und den Weg bis zum Motel.
Ich weiß nicht wie viel er von meinem Gespräch mit Yesko mitbekommen hat, also erzähle ich einfach weiter. Der Überfall mit meinem Ausbruch, die Flucht, das Wandern bis zum Jahrmarkt, dann der Sturm.
Er hört die ganze Zeit aufmerksam und ruhig zu.
Alle Geschehnisse nacheinander aufzulisten fühlt sich an, als würde ich sie alle in Gedanken erneut erleben. Umso mehr verwundert es mich, dass ich nicht wieder gegen Tränen ankämpfen muss. Ich habe einen Kloß im Hals und meine Stimme klingt noch immer erschöpft, doch ich weine nicht.
Und darüber bin ich froh. Vor Willas noch einmal in Tränen auszubrechen steht nicht wirklich auf meiner Wunsch-Liste.
Ich schaue ihm nicht wirklich in die endlosen dunklen Augen, sondern richte meinen Blick immer auf die dunklen Umrisse des Waldes oder meine Hände.
Als ich meine Erzählung beendet habe, hängt für einige Momente Stille in der Luft.
Nur das leise Rascheln der Blätter ist zu hören und es scheint das beruhigendste Geräusch zu sein, das ich in letzter Zeit gehört habe.
»Würdest du alles rückgängig machen wenn du könntest?«,fragt Willas nach einer Weile.
Meine Augen richten sich vom Wald wieder auf ihn. Sein schmales Gesicht wird vom Licht der Öllampe beleuchtet, die tanzende Schatten wirft.
Ich ziehe ein Bein mit auf die Sitzfläche des Stuhles, um die Arme darum zu legen.
Ich dachte nicht, dass ich für diese Antwort so lange brauchen würde.
»Wenn das involviert, dass ich keine Bluthexe mehr wäre, ja. Ansonsten nein«,antworte ich, nachdem ich das Ganze in meinem Kopf hin und her gewendet habe.
Willas legt leicht den Kopf schief. »Warum?«,hakt er nach.
»Trotz allem was passiert ist, bin ich froh die Wahrheit zu kennen, obwohl mit der Lüge weiterzuleben einfacher gewesen wäre«,erkläre ich und beobachte wie er langsam verstehend nickt.
Die Flamme der Öllampe flackert auf dem Tisch seelenruhig vor sich hin, unbeeindruckt vom Wind gegen den sie die dünnen Glasscheiben abschirmen.
»Gibt es etwas, was du rückgängig machen würdest?«,frage ich zurück und mustere sein nachdenkliches Gesicht.
»Den Tod meines Vaters«,erwidert er und beobachtet den dunklen Wald. Kurz wundere ich mich, ob dort draußen Wölfe sind, dann kommen meine Gedanken zurück zum Gespräch.
»Wie ist er gestorben?«,hake ich nach.
»Im Kampf mit einer Bluthexe«,erwidert Willas und ich hebe die Augenbrauen. Er schmunzelt schwach. »Wolfsherren und Bluthexen sind nicht gerade die besten Freunde«,erklärt er.
»Warum?«
Er hebt leicht die Schultern. »Es gab einmal einen großen Konflikt vor einigen Jahrzehnten. Seitdem herrscht größtenteils Hass, entstanden aus Angst zwischen beiden Parteien.«
Ich mustere ihn.
»Hast du Angst vor mir?«,frage ich dann.
Er schmunzelt. »Sollte ich das denn?«
Nur eine weitere Frage auf die ich keine Antwort habe.
»Hast du Angst vor mir?«,wiederholt und erwidert er die Frage, als ich nicht antworte.
Wir halten beide dem direkten Blickkontakt stand. Seine dunklen Augen scheinen immer noch so wenig preiszugeben, wie die letzten zwei Tage. Aber es sind die gleichen Augen.
Ich schüttele langsam den Kopf. Er nickt.
»Wie alt warst du, als dein Vater gestorben ist?«,frage ich, das vorherige Thema wieder aufnehmend. Er denkt kurz nach und antwortet dann mit »Vierzehn«.
»Das tut mir leid«,antworte ich schlicht.
Willas erwidert darauf nichts, sondern geht genauso still seinen Gedanken nach wie ich, während wir beide hinaus auf den dunklen Wald blicken, über welchem sich die Wolken langsam zurückziehen und klare Sicht auf den Sternenhimmel offenbaren.
Unwillkürlich muss ich leicht anfangen zu lachen, mehr erschöpft als glücklich oder amüsiert.
Es ist alles so absurd.
Willas sieht zu mir hinüber. »Was?«,meint er verwundert aber schmunzelnd, von meinem Lachen angesteckt.
»Das ist alles so absurd«,entgegne ich und blicke ihn leicht lächelnd an.
Er blickt zurück auf den Wald und nach einigen Sekunden höre ich ihn ebenfalls in sich hineinlachen.
So sitzen wir da, mitten in der Nacht auf der Veranda, schmunzeln zusammen über die Absurdität des ganzen und ohne, dass ich es will, fühlt es sich an wie eine kleine Allianz.

Die Uhr im Schlafzimmer zeigt bereits kurz vor drei Uhr, als ich zurück ins beinahe vollständig dunkle Zimmer schlüpfe. Keith liegt noch immer im Bett, sein Atem geht ruhig und gleichmäßig. Lautlos schleiche ich zum Bett, ziehe meinen Pullover wieder aus und schiebe mich vorsichtig zu ihm unter die Decke.
Trotz dessen, dass meine Augen brennen und meine Lider schwer sind, ist mein Geist noch nicht bereit wieder schlafen zu gehen. Zum einen wegen der Träume, die dort warten könnten, zum anderen wegen den vielen neuen Informationen und Gefühle, die mir das Gespräch mit Willas gebracht hat.
Ich spüre nur langsam die Wärme in meinen ausgekühlten Körper zurückkehren.
Die Entscheidung, ob ich Keith davon erzählen werde, fällt mir schwerer als gedacht.
Dann wird mir plötzlich klar, wie viel ich Willas einfach erzählt habe. Alles praktisch.
Dennoch löst diese Erkenntnis nicht allzu viel Sorge in mir aus. Ich hab das Gefühl ich kann ihm vertrauen, auch wenn es vielleicht naiv ist.
Keith sähe das höchstwahrscheinlich anders. Ich kann mir vorstellen, dass er es nicht gut heißen würde, wüsste er wie viel von unserer Situation ich ausgeplaudert habe.
Vermutlich wäre es besser, wenn ich ihm nichts erzähle. Damit würde ich aufjedenfall einem Streit aus dem Weg gehen. Zwar fühlt es sich gleichzeitig falsch an Keith nichts davon zu erzählen, doch ich beschließe, dass ich mir darüber am Morgen immer noch Gedanken machen kann.
Letztendlich werden wir morgen wahrscheinlich sowieso abreisen.

Die Bluthexen I - Denn Blut ist gefährlichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt