Zweiundzwanzig

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Meine Lungen, mein Magen, meine Gliedmaßen, alles krampft sich schmerzhaft zusammen.
Erstickte Schluchzer drängen sich durch meine zugeschnürte Kehle und ein hohes Fiepen tönt in meinen Ohren.
Hinter meinen Lidern herrscht komplette Schwärze und auf meinen Wangen spüre ich Tränen.
Mein Körper bebt kraftlos.
Verzweifelt versuchen meine Lungen Luft einzuatmen, gleichzeitig dringen die hysterischen Schluchzer nach draußen und machen es unmöglich Sauerstoff hineinzulassen.
Eine Stimme dringt an meine Ohren, aber nicht zu mir hindurch.
Ich spüre meine Knie an meiner Brust.
Klebrige, feuchte Wärme dringt an der Stelle durch mein Shirt.
Wieder die Stimme.
Ich höre nicht was sie sagt und ich will nichts hören, trotzdem kehrt sie zurück.
»Miena!«
Meine Knie pressen sich näher an meine Brust, meine Augen kneifen sich stärker zusammen.
Das Fiepen nimmt ab und langsam kehren mehr Eindrücke zurück.
Schmerzen in meinen Knien, Steine die sich in meine Seite bohren, ein brennendes Gefühl an meiner Kehle. Ein ekelhafter Geruch, der mir nur zu bekannt vorkommt.
Plötzlich legt sich eine Hand an meine Schulter und mein Körper reagiert mit einem heftigen Zucken.
»Miena, hey«,ertönt die Stimme nun klarer. Vorsichtig und sanft, aber auch drängend.
»Miena, wir müssen hier weg.«
Ich nehme einen tiefen Atemzug, ehe ich blinzelnd und unter scheinbar riesigem Kraftaufwand die Augen aufschlage. Zunächst ist noch alles zu undeutlichen Schemen verschwommen, dann klärt sich meine Sicht langsam.
Das trübe Morgenlicht wirkt gleich weniger beruhigend, als es auf die leblosen Körper am Boden fällt. Sofort schiebt sich jedoch etwas zwischen mich und die Leichen, sodass ich sie nicht mehr sehen kann.
»Miena, sieh mich an«,meint Keith eindringlich und langsam wandert mein Blick nach oben zu seinem Gesicht.
Er sieht mich fest an.
»Wir müssen hier weg, jetzt.«
Vorsichtlich löse ich meine Arme, die sich fest um meine Beine geklammert haben, um mich langsam aufzusetzen. Sobald ich meine Beine bewege wird der Schmerz stärker und ich ziehe scharf die Luft ein.
Wieder entflieht mir ein gedämpftes Schluchzen.
Nicht wegen der Schmerzen, sondern wegen ... allem anderen.
»Der Junge ist geflohen, er holt best-«
»Geht es dir gut?«,unterbreche ich Keith schwach, blicke ihn aber drängend an.
Eine Sekunde erwidert er den Blick, dann seufzt er.
»Ja, es hat mich nicht getroffen«,gibt er zurück, scheinbar genau wissend, worauf ich hinaus wollte.
»Komm jetzt.«
Er steht auf und hält mir die Hand hin.
Erschöpft ergreife ich sie und lasse mich von ihm behutsam auf die Beine ziehen, wobei ich stöhnen muss, weil mein ganzer Körper schmerzt.
»Geht es?«,fragt der Junge, mich leicht am Unterarm stützend.
Ich nicke nur schwach, woraufhin er meinen Arm loslässt und zum Lager hinüber geht.
Unwillkürlich lasse ich meinen Blick über die Szenerie vor mir schweifen und muss dabei meine Übelkeit hinunter schlucken.
Die drei Lyceray liegen leblos am Boden, äußerlich keine einzige Verletzung und zwischen ihnen Alysanne - blutüberströmt.
Mein Körper zittert noch immer.
»Sieh nicht hin«,meint Keith, als er sieht wie ich starr die Toten mustere, doch ich höre nicht auf ihn. Es ist meine Schuld, sollte ich mir nicht wenigstens die Folgen ansehen können?
Ist das nicht das Mindeste?
Er kniet sich neben die rothaarige Bluthexe, die noch vor nicht einmal fünf Minuten quicklebendig war und schließt vorsichtig ihre leeren, an die Decke gerichteten Augen.
»Wir können sie nicht einfach hier lassen«,murmele ich mit einem Beben in der Stimme und einem Kloß im Hals.
»Wir können sie aber auch nicht mitnehmen«,entgegnet Keith ernst und gefasst.
Ich frage mich wie ihn das alles so kalt lassen kann. Oder eher noch wie er es hinbekommt seine Emotionen zu verbergen, denn ich glaube nicht, dass ihn das wirklich kalt lässt.
Niemand kann sich so an den Tod gewöhnen.
»Wir sollten sie vergraben«,schlage ich vor, doch Keith schüttelt den Kopf und greift nach ihren Rucksack, um ihn zu öffnen.
»Keine Zeit«,widerspricht er und beginnt Sachen aus dem großen Camping-Rucksack zu räumen, von denen er scheinbar denkt, dass wir sie nicht brauchen. Ich fühle mich unwohl dabei, dass er einfach durch ihre Sachen geht, doch ich verstehe seine Intention. Manches werden wir gut brauchen können, der Rest ist Ballast.
Als er zufrieden scheint mit dem Inhalt des Rucksacks packt er seine eigenen, wenigen Sachen dazu, schnürt ihn fest zu und schultert ihn.
Ich stehe immer noch an der selben Stelle und starre auf das Bild vor mir.
Ich habe das getan.
Ich allein.
Meine Beine zittern nicht nur vor Angst oder Schock, ich spüre die fehlende Kraft, die mir der ungewollte Zauber geraubt hat.
Keith ist mit langen Schritten bereits wieder bei mir angekommen und hält mir meinen Rucksack hin.
Mit langsamen Bewegungen schiebe ich meine Tasche auf meinen Rücken, als Keith mir auch noch ein Messer hinhält. Er muss es einem der Lyceray abgenommen haben. In seiner anderen Hand liegt ein zweites.
Zögerlich lege ich die blutigen Finger um den kunstvoll geschnitzten Holzgriff der Waffe.
Keith nickt mir mutmachend zu.
»Wir müssen los. Bereit?«,meint er leise und ich lasse den Blick noch einmal langsam über das Lager schweifen, dann nicke ich zustimmend. Mir wird schwindelig von der plötzlichen, schnellen Bewegung, als ich versuche mit Keiths zügigem Gang Schritt zu halten, doch ich halte nicht an.
Er hat Recht, wir haben keine Zeit dafür.
Falls Conner mit Verstärkung zurück kommt, sollten wir bis dahin weg sein.
Der Schaft des Messers liegt warm in meiner zittrigen Hand, während meine Finger sich fest darum krallen.
Ist das die Waffe mit der Keith bedroht wurde?
Wir nehmen den gleichen Weg nach draußen, auf dem wir auch herein gekommen sind.
Die Hintertür, die Alysanne wieder verschlossen hatte, ist nur noch angelehnt, die Lyceray müssen sie aufgebrochen haben.
Keith lugt zuerst vorsichtig aus dem Spalt der Tür hinaus, wirft mir dann einen kurzen Blick zu, ehe er sie aufschiebt und nach draußen tritt.
Das helle Licht blendet mich einen Augenblick und verursacht einen stechenden Schmerz hinter meinen Augen.
Friedliches Vogelgezwitscher umgibt uns, während die von warmen Sonnenlicht beschienenen Blätter in einem saftigen Grün leuchten und tanzende Lichtflecken auf den Boden werfen.
Ungeachtet der Umstände wäre es ein schöner Morgen.
Alysanne wird das hier allerdings nie wieder sehen.
Keiner dort in der Halle wird diese je wieder verlassen, das Vogelzwitschern hören oder die tanzenden Sonnenflecken beobachten können.
Urplötzlich wird mir schlecht und ich beuge mich schnell vornüber zur Wand, ehe ich mich auch schon hustend übergebe.
Viel hab ich allerdings nicht im Magen, weswegen mein Körper nur bittere Galle hervorwürgt.
»Miena«,höre ich Keith hinter mir. Seine Stimme ist vorsichtig und mitfühlend, vielleicht sogar besorgt, doch ich höre auch das Drängen in ihr.
Den einen Arm auf Höhe der Stirn an der Wand abgestützt bringe ich ihn nur mit einer kurzen Geste der anderen Hand zum Schweigen.
Wir müssen los.
Tief atme ich ein und wieder aus.
Betont langsam.
Yesko hat mich früher immer dazu gebracht durchzuatmen, wenn ich aufgebracht war.
Es hat immer funktioniert.
Als ich mir sicher bin, dass der Würgereiz nicht wieder zurückkehrt, spucke ich aus und wische mir den Mund an meinem Handrücken ab, während ich mich wieder aufrichte.
Keith hat eine Wasserflasche aus dem Rucksack gezogen und hält sie mir hin.
Schwach aber dankend nehme ich sie, um ein paar Schlucke zu trinken und den bitteren Geschmack wegzuspülen.
Die Flasche gebe ich Keith zurück, der sie wieder in Alysannes Rucksack verstaut und mich dann ansieht, so als würde er darauf warten, dass ich etwas sage, eine stumme Frage, ob ich bereit bin.
Ich nicke kaum merklich und Keith antwortet mit einem schwachen Lächeln, ehe er voraus durch das Unterholz stapft.
Der Pick-Up steht verlassen auf dem Platz vor der Lagerhalle, von dem schwarzen Wagen der Lyceray ist nichts zu sehen.
Es ist ein stummes Einverständnis, dass wir nicht den Pick-Up nehmen können.
Die Lyceray kennen ihn.
Und ich werde vielleicht bereits von der Polizei gesucht.
Mein ganzer Körper schmerzt, an manchen Stellen mehr, an anderen weniger.
Keith schlängelt sich schnell durch das Unterholz und ich versuche mitzuhalten, aber es dauert nicht lange bis ich keuche und meine Beine beginnen wieder stärker zu zittern, doch ich versuche mir nichts anmerken zu lassen.
Die Sonne ist bereits ein ganzes Stück gestiegen, als ich mir es erlaube anzuhalten.
Ich beuge mich schweratmend vornüber, um die Hände auf die Oberschenkel zu stützen.
Das Joggen, welches wir die letzte Stunde fast konsequent durchgehalten haben, aus Angst nicht genug Vorsprung aufbringen zu können, hat meinem Körper die restliche Kraft geraubt.
Als Keith merkt, dass ich stehen geblieben bin, dreht er sich um und hält ebenfalls an.
Die Hände stützt er in die schmalen Seiten und den Kopf legt er in den Nacken. Auch seine Brust hebt sich schneller als gewöhnlich, allerdings sieht er im Gegensatz zu mir vermutlich dennoch mehr als fit aus.
Er erwidert meinen Blick der nach einer Pause zu flehen scheint kurz, bevor er seufzt und leicht nickt. Erleichtert lasse ich mich auf den weichen Waldboden sinken und strecke mich direkt auf dem Rücken aus.
Ich höre wie Keith seinen - beziehungsweise Alysannes - Rucksack abstellt und darin kramt.
Als ich den Kopf zu ihm drehe, sehe ich, wie er mit einem kleinen Beutel und der Wasserflasche zu mir kommt, um sich neben mich zu setzen.
Er lässt mich zuerst trinken - wofür ich ihm mehr als dankbar bin - ehe er selbst ein paar große Schlucke nimmt.
Ich rangiere kurz mit meinem Rucksack, sodass ich meinen Kopf bequem auf ihm ablegen kann.
»Was ist das?«,frage ich und nicke zu dem Stoffbeutel, den er mit herübergebracht hat.
»Für deine Verletzungen«,entgegnet er,»Wenn wir nichts dagegen machen entzündet es sich vielleicht.«
Meine Augen folgen seinen zu meinen Knien.
Das Blut ist an manchen Stellen geronnen, doch durch das Laufen scheinen die Schnittwunden immer wieder aufgerissen zu sein. Dazwischen sind noch kleine, glitzernde Scherben zu erkennen.
Noch vor einer Woche wäre mir allein bei dem Anblick schwindelig geworden, nun merke ich nur ein leichtes unangenehmes Kribbeln in meinem Magen.
Einen Moment sitzen wir schweigend nebeneinander und konzentrieren uns darauf wieder zu Atem zu kommen.
Dann dreht sich Keith zu meinem Bein, während er den Beutel öffnet.
»Krempel deine Jeans hoch«,weist er mich an und ich komme dem schweigend nach.
Mein Gesicht verzieht sich leicht, als ich den Stoff der Jeans über das Knie schiebe, da die zerrissenen Fasern, die in der Wunde festkleben, diese an mehreren Stellen wieder aufreißen.
Keith kramt derweile in dem kleinen Beutel.
Schließlich zieht er eine kleine Schere heraus und betrachtet sie fast argwöhnisch.
Ich hebe fragend eine Augenbraue.
»Wir müssen die Scherben entfernen, die hier kommt einer Pinzette am Nächsten und ist vermutlich steriler als eines der Messer«,antwortet er auf mein stilles Nachhaken.
Ich seufze leicht.
»Sei vorsichtig«,erwidere ich nur und stütze mich rückwärts auf meine Arme.
Keith antwortet nicht, sondern beginnt behutsam erst die größeren und dann die kleineren Glasstücke mit der Schere herauszunehmen.
Ich liege nur da und verziehe das Gesicht.
Meine Knie sind etwas taub, doch das Brennen der Wunden spüre ich dennoch und wenn ich zusammenzucke zieht der Schmerz bis hoch in meinen Oberschenkel.
Dennoch bin ich den Schmerzen gegenüber relativ gleichgültig.
Es ist bestimmt eine halbe Stunde vergangen, bis er auch das andere Knie von den Scherben befreit hat.
Dann nimmt er die Wasserflasche und schraubt sie auf, doch bevor er das Wasser über meine Knie gießen kann, halte ich ihn zurück.
»Das brauchen wir als Trinkwasser«,widerspreche ich und Keith rollt nur mit den Augen.
»In der Nähe ist bestimmt ein Bach oder Fluss«,entgegnet er nur und setzt wieder an, um die Wunden mit dem Wasser abzuspülen. Ich lasse es widerwillig über mich ergehen und beiße die Zähne aufeinander.
Die Wunden brennen stark, während der Schmutz herausgespült wird.
Langsam bewege ich meine Beine.
Das taube Schmerzgefühl zieht sich in bis hinauf in die Mitte meiner Oberschenkel.
Er wiederholt die ganze Prozedur auch noch an meinen Händen. In diesen befinden sich hingegen kaum Glassplitter.
»Wir haben keinen Verband«,meint Keith schließlich nachdenklich.
Die Wunden haben wieder angefangen zu bluten, doch bei Weitem nicht so stark wie zuvor.
Ich will gerade meine Hosenbeine wieder herunterziehen, da stoppt Keith mich.
»Warte«,sagt er und steht auf, um zum Rucksack hinüber zu gehen.
Er zieht ein Kleidungsstück heraus und zerreißt es, bevor ich etwas einwenden kann.
Ich weiß nicht, ob es von ihm oder Alysanne war und ich weiß nicht was mir lieber wäre.
Beides ist mir unangenehm.
Die Stoffstreifen wickelt der Junge um meine Knie und die Handflächen und hilft mir dann vorsichtig die Hosenbeine wieder herunter zu ziehen.
»Geht es dir gut?«,fragt Keith aus dem Nichts, als er den kleinen Beutel sorgfältig wieder einräumt. Ich zucke mit den Schultern.
»Es tut weh, aber es geht schon«,erwidere ich trocken und zupfe leicht an dem Verband um meine Handflächen.
Keith schmunzelt schwach.
»Du weißt, dass ich das nicht gemeint habe«,entgegnet er und nimmt die Flasche und den Beutel, sowie das zerrissene Kleidungsstück, um alles in den Rucksack zu packen.
Ich lasse die Worte stumm auf mich wirken.
Die Antwort ist klar.
Nein.
Nein mir geht es nicht gut.
Kurz überlege ich ob ich lügen soll, dann frage ich mich wozu.
»Nein, aber jetzt gibt es doch kein Zurück mehr, oder?«,gebe ich schließlich zurück, ohne eine Antwort zu erwarten und rappele mich wieder auf damit wir weiter gehen können.

Die Bluthexen I - Denn Blut ist gefährlichTempat cerita menjadi hidup. Temukan sekarang