Fünfundzwanzig

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Der vierte Tag - zumindest glaube ich, dass es der vierte Tag ist, seitdem wir in der Lagerhalle übernachtet haben - verläuft ohne besondere Ereignisse. Da wir nun erst einmal genügend Vorräte haben halten wir uns von Städten und Dörfern wieder fern.
Am Morgen des fünften Tages werde ich von einem wirren Traum geweckt. Das Lagerfeuer ist ausgebrannt und die Sonne bereits aufgegangen. Keith liegt auf der Isomatte gegenüber von mir und mir wird bewusst, dass ich während meiner Wache eingenickt bin. Kurz überkommt mich Sorge und werfe ich einen Blick in jede Richtung, doch nirgendwo ist jemand zu sehen. Auch unsere Sachen sind noch da.
Leicht seufzend lehne ich mich wieder zurück gegen den Baumstamm und lege den Kopf in den Nacken.
Warme Sonnenstrahlen dringen durch die lichten Baumkronen über uns und legen sich behutsam auf meinen Körper und mein Gesicht. Das Rascheln der Blätter wird von vereinzelten Vogelgesängen begleitet. Ich öffne blinzelnd die Augen, als mir ein weiteres Geräusch auffällt. Wasserrauschen.
Es muss ganz in der Nähe einen Fluss geben. Wahrscheinlich war ich gestern zu müde das Geräusch zu bemerken. Mein Körper schmerzt von der unbequemen Position, weshalb ich mich erhebe und strecke. Die Müdigkeit fällt von mir ab, als mich eine sanfte, warme Brise streift.
Ich werfe einen kurzen Blick zu Keith hinunter und beschließe ihn noch ein wenig schlafen zu lassen. Dann folge ich dem Wasserrauschen.
Der kleine Fluss ist tatsächlich nicht weit weg, ich kann das Lager vom Ufer aus sogar noch sehen. Das Wasser plätschert langsam und beständig das Flussbett entlang und kleine Wellen lecken an den Steinen, die es begrenzen. Die Wasseroberfläche glitzert im warmen Sonnenlicht und lässt die ganze Szenerie fast verträumt aussehen.
Ich stehe bestimmt bereits mehrere Minuten am Ufer im Schatten, als mich ein starkes Bedürfnis überkommt im Fluss zu baden. Meine letzte Dusche liegt - solang ich die Tage richtig im Blick habe - fast eine Woche zurück.
Genau so fühle ich mich auch. Ich schaue noch einmal schnell zum Lager hinüber, ehe ich schon beginne meine Sachen abzulegen.
Es fühlt sich gut an die alten Klamotten endlich auszuziehen, auch wenn ich mich darunter nicht weniger dreckig fühle. Ich nehme auch die improvisierten Verbände um meine Knie ab, wobei ich die Wunden fast wieder aufreiße, da sich der Stoff erneut mit diesen verklebt hat.
Bei meiner Unterwäsche zögere ich kurz, doch dann streife ich mir auch diese ab und werfe sie auf den Kleiderhaufen. Es ist eine Erleichterung, als meine vom stetigen Wandern wunden Füße das kühle Wasser berühren. Früher wäre es mir vermutlich zu kalt gewesen, doch die Temperatur interessiert mich gerade herzlich wenig. Dafür ist die Verlockung des Bades zu vielversprechend. Eine kleine Überwindung braucht es dennoch, um meinen ganzen Körper ins Nass gleiten zu lassen, doch gleich darauf entweicht mir ein wohliges Seufzen.
Die Strömung ist in diesem Teil des Flusses nicht so stark, sodass ich mich ohne Sorge etwas treiben lassen kann. Die Sonne prallt auf meine blasse Haut herab und blendet mich, weswegen ich einfach die Augen schließe. Mein Kopf ist leer und ich glaube ich war schon lange nicht mehr so entspannt.
Als ich genug davon habe mich treiben zu lassen schwimme ich wieder in Richtung Ufer bis meine Füße den Grund berühren. Den ganzen Schmutz von meiner Haut und aus meinen Haaren zu waschen fühlt sich mehr als gut an.
Irgendwann wird mir das Wasser dennoch zu kalt, sodass ich wieder herauswate und vor einem Problem stehe, was ich vorher nicht beachtet hatte. Wie trockne ich mich ab?
Das Problem erledigt sich allerdings fast von allein, denn während ich unwohl herumstehe, die Arme notdürftig vor der Brust verschränkt, trocknet meine Haut so weit, dass ich mir meine Unterwäsche und das Shirt wieder überwerfen kann. Am Lager werde ich sowieso frische Sachen anziehen.
Ich versuche noch mir die ungewohnt kurzen Haare auszuwringen, ehe ich barfuß, meine restlichen Sachen unter den Arm geklemmt, zum Lager zurücktappe.

»Ach komm schon, nur eine halbe Stunde!«,versuche ich Keith zu überzeugen. Nachdem der Junge die Möglichkeit zu baden ebenfalls ergriffen und wir auch unsere Wasserflaschen am Fluss aufgefüllt hatten, waren wir etwa gegen Mittag losgegangen. Es waren erst ein paar wenige Stunden vergangen, als wir die Geräuschkulisse von Musik, Stimmen und Lachen das erste Mal bemerkten und es dauerte nicht lang bis auf einer großen Lichtung ein Jahrmarkt in Sicht kam. Wir haben am Waldrand angehalten und blicken nun zwischen den Zelten und Ständen hindurch auf die Menschenmassen.
Kinder rennen zwischen Erwachsenen herum, lachend, mit Zuckerwatte oder frischen Maiskolben in der Hand. An den Ständen wird auf Dosen geworfen, auf Figuren geschossen oder nach Blechmaulwürfen geschlagen. Es gibt auch ein kleines Riesenrad und mehrere Karusselle.
»Du wirst von der Polizei gesucht, Miena«,argumentiert Keith entschieden dagegen.
»Das ist ein Dorffest, als würde hier irgendjemand nach Verbrechern Ausschau halten«,schnaube ich allerdings,»Sie werden uns gar nicht bemerken.«
Keith ist immer noch nicht überzeugt. »Was ist mit den Lyceray?«,fragt er stattdessen und hebt eine Augenbraue. »Wir sind so weit gereist in den letzten Tagen und haben nicht ein Mal eine Spur von ihnen gesehen. Wie sollten sie uns finden?«,entgegne ich entschieden. Es ist nicht so, dass ich mir des Risikos nicht bewusst bin, doch der heutige fröhliche Teil von mir will unbedingt ein wenig Zeit auf dem Jahrmarkt verbringen.
»Komm schon, sei kein Spielverderber«,meine ich auf Keiths immer noch nicht wirklich begeisterten Blick hin und laufe einfach los in Richtung des Jahrmarktes, sodass er gezwungen ist mir zu folgen.
»Hey!«,kommt es von hinten, aber er holt mich erst am Rand des Jahrmarktes ein und greift nach meinem Arm. Ich werfe ein leichtes Augenrollen zu ihm nach oben. »Komm schon, es-«
»Eine halbe Stunde«,meint er und ein Grinsen schleicht sich auf meine Lippen, das der Junge erwidern muss. »Und wir bleiben zusammen«,fügt er dann noch entschieden hinzu.
Ich ziehe neckend ein mitfühlendes Gesicht. »Hast du Angst ohne mich, hm?«
Über seinen Gesichtsausdruck muss ich lachen, woraufhin er mich ein paar Schritte von sich wegschubst. »Hey!«,beschwere ich mich lachend, doch er geht nicht darauf ein, sondern wendet sich ab, um sich zwischen den Ständen hindurch auf den Weg zu schlängeln, aber ich erkenne auch auf seinen Lippen ein Grinsen und folge ihm zufrieden schmunzelnd.
Wie ich vorhergesagt habe kümmert sich niemand um uns, während wir mit dem Strom der Besucher über den Markt schlendern. Wir fallen nicht auf. Trotzdem können wir es uns nicht erlauben an irgendwelchen Ständen anzuhalten, um an etwas aktiv teilzunehmen, dessen sind wir uns im Stummen einig. Für das Geld haben wir ohnehin eine bessere Verwendung.
Aber ich genieße es auch so einfach zwischen den Menschen entlang zu schlendern. Die Gedanken an Lyceray und Dysia und Hexen verschwinden in eine dunkle Ecke meines Kopfes. Es fühlt sich an, als würde es eine Last von mir nehmen.
An allen Ständen ist mehr oder weniger viel Betrieb, doch vor einem Zelt, eines der letzten, ist besonders viel Andrang, wodurch es meine Aufmerksamkeit erregt.
Es ist von einem dunklen Rot mit goldener, orientalisch gemusterter Spitze an den zugezogenen Vorhängen, sowie an den Dachkanten. Ich bleibe stehen. Vor dem Zelt steht ein Schild, dessen Aufschrift ich allerdings nicht lesen kann, da sie von der Menschenschlange verdeckt wird.
Neugierig geworden schiebe ich mich aus dem Strom heraus, meine Beine tragen mich zu dem auffällig roten Zelt hinüber.
Doch auch aus der Nähe kann ich die Aufschrift des Schildes nicht lesen, ich bin zu klein. Ich versuche durch Strecken einen Blick zu erhaschen, als die Vorhänge des Zeltes schwungvoll geöffnet werden. Zwischen ein paar Köpfen hindurch sehe ich zwei Personen heraustreten, einen Mann und eine Frau. Der Mann sieht gewöhnlich aus, wahrscheinlich einfach ein Besucher. Die Frau hingegen trägt ein langes dunkles Gewand, was in seinem Stil dem des Zeltes ähnelt. Über ihrem Kopf liegt ein schwarzer, halbdurchsichtiger Schleier, der von einem Kopfband aus goldenen Perlen an Ort und Stelle gehalten wird. Ihre Haltung ist sehr aufrecht und von ihrem Gesicht kann man nicht viel erkennen, doch sie wirkt älter, allein durch ihre autoritäre Ausstrahlung.
Ich merke erst, dass ich sie angestarrt habe, als sich ihr Kopf direkt in meine Richtung wendet.
Ein stechendes Gefühl durchfährt mich, so als hätte mich etwas berührt, doch niemand steht in meiner Nähe.
Ich kann ihre Augen durch den Schleier kaum sehen, doch ich weiß, dass sie auf mir liegen.
Sie hebt langsam den Arm und zeigt mit einem Finger in meine Richtung. Ich muss mich nicht umsehen, um zu wissen, dass sie mich meint. Den Leuten vor mir scheint es ähnlich zu gehen denn ihre Blicke legen sich verwundert auf mich.
In einer flüchtigen, aber keinesfalls unsicheren Bewegung krümmt sich ihr Finger in ihre eigene Richtung, ehe sie sich schwungvoll umdreht, um wieder im Zelt zu verschwinden.
Durch meinen leicht offen stehenden Mund stoße ich die Luft aus, die ich angehalten hatte.
Die Blicke aller Wartenden sind auf mich gerichtet, doch ich kümmere mich nicht darum. Stattdessen wende ich den Kopf und sehe mich nach Keith um, doch er ist nirgendwo in Sicht. Er scheint nicht bemerkt zu haben, dass ich stehen geblieben bin.
Ich schwanke zwischen der vernünftigen Entscheidung Keith zu suchen und zu verschwinden und der leichtsinnigen Entscheidung der stummen Einladung der alten Frau zu folgen.
Ich weiß nicht wie lange ich dort stehe und nachdenke, es fühlt sich an wie Minuten, doch es sind wahrscheinlich Sekunden, ehe ich mich in Richtung des Zeltes in Bewegung setze, denn die Augen der wartenden Besucher sind noch immer auf mich gerichtet und verfolgen mich, während ich zwischen ihnen hindurch gehe.
Ein flüchtiger Blick auf das Schild offenbart mir die Art der Attraktion.
Wahrsagen.
Dann tauche ich bereits in die Dunkelheit des Zeltes ein und die schweren roten Vorhänge schließen sich in einer geschmeidigen Bewegung hinter mir, so als wollten sie mich verschlucken.

Die Bluthexen I - Denn Blut ist gefährlichWhere stories live. Discover now