Zwölf

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Ich sprinte beinahe zur Bushaltestelle, um noch den nächsten Bus Richtung Krankenhaus zu erwischen. Auf dem Weg dorthin kreisen meine Gedanken darum, was ich zu Conner sagen will. Ich hatte keine Zeit mich jetzt irgendwie darauf vorzubereiten, da ich nicht damit gerechnet hatte, dass einer der Jungs aufwachen würden. Viel zu schnell hält der Bus am Krankenhaus und ich steige aus. Im Gebäude angekommen entdecke ich schon Dr. Dawkins am Aufzug stehen und durchquere mit klopfendem Herzen die Eingangshalle.
»Hallo«,bringe ich heraus, als ich vor dem Arzt stehen bleibe.
»Kommen Sie«,meint dieser nur und betritt den Aufzug, ich folge ihm schnell.
»Ich weiß nicht, ob Sie eine Möglichkeit bekommen lange allein mit ihm zu sprechen, seine Familie ist auf dem Weg«,erklärt er mir, als die Aufzugtüren sich schließen. Ich nicke nur leicht zum Zeichen meines Verständnisses. »Warum helfen Sie mir eigentlich?«,frage ich nach einer kurzen Stille und sehe zu dem Arzt hinauf, welcher mit den Schultern zuckt.
»Ich helfe einfach gerne.«
Ich bekomme keine Möglichkeit weiter nachzufragen, da der Aufzug hält und uns in den Krankenhausgang entlässt, auf welchem ein mäßiger Betrieb ist.
Dr. Dawkins bleibt gleich bei einem der ersten Zimmer stehen und öffnet mir die Tür. Ein seltsames Gefühl erfüllt mich, irgendwas fühlt sich nicht richtig an, aber ich ignoriere es und trete ein. Doch das Gefühl soll sich sogleich bestätigen.
Das Einzelzimmer ist leer, das Bett verlassen, die Decke ordentlich über die Matratze gelegt und glatt gestrichen. Ich runzele die Stirn und drehe mich zu dem Arzt um.
»Haben Sie sich im Raum geirrt?«,frage ich verwirrt, woraufhin er irritiert ebenfalls eintritt.
»Nein, eigentlich nicht«,antwortet er und geht zum Bett, um die Decke anzuheben. Entsetzt schlage ich mir die Hand vor den Mund, als der große Blutfleck darunter sichtbar wird. Mein Herz schlägt schneller, während sich wie immer eine Übelkeit in meinem Magen zusammenbraut. Erst jetzt fallen mir auch die Blutspuren auf dem Linoleum Boden hinter dem Rollbett auf. Langsam weich ich ein paar Schritte zurück. Dr. Dawkins lässt den Zipfel der Decke wieder fallen, eine undefinierbare Miene aufgelegt und eilt an mir vorbei zum Badezimmer, um zu sehen, ob der Junge dort ist, doch er kehrt sogleich wieder erfolglos zurück. Das Gefühl, dass hier etwas nicht richtig ist, wandelt sich in eine Gewissheit um.
Aufeinmal ertönt im Flur ein Schrei. Dr. Dawkins und ich tauschen nur einen kurzen Blick, bevor wir hinauseilen. Direkt neben uns starrt eine Frau schockiert in das nächste Patientenzimmer. Der Arzt geht mit schnellen Schritten zu ihr und ich folge ihm, um zu sehen was die Frau so schockiert hat. Was ich in dem nächsten Zimmer zu sehen bekomme lässt die Übelkeit und das schlechte Gefühl nur noch einmal und viel stärker aufsteigen. Dieses Zimmer ist ein Doppelzimmer. Auch hier ist der Boden mit Blut beschmiert, doch im Gegensatz zu Conners Zimmer, ist es nicht leer.
Ich kann nur einen kurzen Blick von den leblosen Körpern auf dem Boden erhaschen, ehe ich mich automatisch abwende. Ich habe das Gefühl, dass sich alles dreht. Das kann nicht wahr sein. Das kann nicht die Realität sein. Ich meine, wer würde so etwas tun? Galle steigt meine zugeschnürte Kehle hinauf und füllt meinen Mund mit dem bitteren Geschmack. Ich schlucke schwer und fahre mir mit zitternden Fingern durch die Haare. Sie sind tot. Einfach so. Wäre ich nicht gewesen hätten sie nicht im Krankenhaus im Koma gelegen und wären jetzt vielleicht noch am Leben.
Ich werde zur Seite gestoßen als ein Haufen Ärzte und Krankenschwestern die von dem Schrei alarmiert wurden, in den Raum mit den zwei leblosen Jungs stürmen. Mein Mund steht leicht offen, während ich mich wie betäubt neben der Tür an die Wand lehne, den Blick ins Leere gerichtet. Der Lärm um mich herum verschwimmt zu einem einzigen Tonband, aus dem nur das laute Wummern meines Herzens heraus sticht.

Ich weiß nicht wie lange ich dort stehe, während die Leute in einem großen Durcheinander über den Gang eilen.
Aus dem Schockzustand erwache ich erst als mich jemand am Arm fasst.
»Sie sollten nachhause gehen«,ertönt die Stimme von Dr. Dawkins, dessen Gesicht vor meinen Augen langsam Gestalt annimmt.
»Sie geht nirgendwohin.«
Die zweite Stimme ist mir ebenfalls bekannt und weckt ein unangenehmes Gefühl, auch, wenn ich erst überlegen muss warum.
Viktor, der Polizist, dessen Nachnamen ich nicht erfahren habe, als er mich das erste Mal verhört hat letzte Woche, kommt schwungvoll vor uns zum Stehen, ein Zweiter folgt ihm auf den Fersen. Schnell streiche ich mir die Wangen trocken. Ich hatte nicht bemerkt, dass ich in meinem Schock stumm angefangen hatte zu weinen, doch diesem Kotzbrocken von Polizist wollte ich es nicht unbedingt zeigen. Bei einem kurzen Blick um mich herum stelle ich fest, dass der Gang sich ein wenig geleert hat, während ich so weggetreten war. »Bitte?«,fragt der Arzt an meiner Seite etwas perplex, aber auch mit etwas Empörung wie ich feststellen muss.
»Miss Havering wird des Mordes an diesen zwei Jugendlichen dort drinnen und der möglichen Entführung des Dritten verdächtigt«,meint der großgewachsene Mann mit einer Genugtuung, die trotz meines aufgelösten Zustandes Wut in mir aufsteigen lässt.
»Sehe ich so a-«,setze ich schon an, doch Dr. Dawkins schneidet mir mit einer Handbewegung das Wort ab und verschränkt die Arme.
»Haben sie einen handfesten Grund für diese Behauptung?«
Eine Falte an der Uniform des Polizisten glättet sich und offenbart ein Namensschild, als dieser die Hände in die Seiten stützt.
Viktor Eriksen.
»Sie ist schon verdächtigt die Jungs lebensgefährlich verletzt zu haben, ein versuchter Mord. Nennen sie das nicht einen handfesten Beweis?«,fragt der Beamte sichtlich selbstsicher.
»Nein.«
Ich muss aufpassen nicht zu grinsen bei Eriksens verblüfften Gesichtsausdruck.
»Nun gut, noch dazu ist sie am Tatort«,fügte er hinzu, nachdem er sich kurz gesammelt hat.
»Sie ist gerade erst gekommen, ich hab sie hochgebracht. Wenn sie die beiden ermordet und den Dritten entführt hätte, wäre sie doch schon längst nicht mehr hier, richtig?«,argumentiert der Arzt mit einem sicheren, ruhigen Ton.
»Außer sie will, dass wir genau das denken«,dreht Viktor den Spieß um und sieht mich fast schon verachtend an.
»Genau das ist aber nur eine vage Behauptung - ohne einen Beweis. Wenn sie ihre Fingerabdrücke in den Zimmern finden, können sie sie verhören, doch nun braucht sie Ruhe, sie steht unter Schock. Würden sie uns entschuldigen?«
Bevor Eriksen oder sein Kollege etwas erwidern können, schiebt sich Dr. Dawkins an ihnen vorbei und zieht mich mit sich. Die Beamten bleiben verwirrt zurück.
»Sie können das gut«,merke ich trocken an, als wir zum Fahrstuhl gehen.
Der Arzt erwidert nichts, sondern bleibt am Fahrstuhl stehen und drückt den Knopf.
»Das ist alles was ich für jetzt tun konnte, sie werden Sie spätestens in ein paar Tagen trotzdem verhören«,erwidert er ausdruckslos und sieht mich an.
»Trotzdem: Danke«,murmele ich, woraufhin er leicht nickt, bevor der Fahrstuhl sich öffnet und er hineingreift, um den Knopf zum Erdgeschoss zu drücken. Ich trete stumm in die Kabine. »Gehen Sie nachhause und ruhen sich aus, Sie brauchen die Ruhe dringend«,weist Dr. Dawkins mich an und ich nicke nur, als die Fahrstuhltüren sich auch schon schließen und die Kabine sich in Bewegung setzt.

Ich nehme mir ein Taxi nachhause. Die Nerven auf den nächsten Bus zu warten habe ich nicht. Ich will einfach nur in mein Bett.
Deswegen kann ich auch ein erleichtertes Seufzen nicht unterdrücken, als der Fahrer vor unserem Haus hält. Ich bedanke ich nur knapp und bezahle, ehe ich aussteige und zum Haus gehe. Aus den Fenstern dringt kein Licht nach draußen, obwohl es schon dämmert.
Ich kann den Ärger schon fast spüren, den ich von meinen Eltern bekommen werde, weil es fast um Acht ist und nicht um Sechs wie ausgemacht. Yesko hatte mir schon geschrieben und gefragt, wann ich komme, als ich im Taxi saß.
Erschöpft krame ich meinen Schlüssel aus der Tasche und schließe die Tür auf. Ich glaube ich werde einfach nur tot ins Bett fallen, sobald ich dort angekommen bin.
Im Halbdunkel des Flurs werfe ich meinen Schlüsselbund in die dafür vorgesehene Schüssel und schäle ich mich aus meiner Jacke. Doch bevor ich das typische ›Ich bin zuhause‹ rufen kann, wird plötzlich das Licht angeknipst. Vor mir stehen aber nicht wie vermutet nur Yesko oder meine Eltern, sondern hinter ihnen all unsere Verwandten.

»Überraschung!«

Die Bluthexen I - Denn Blut ist gefährlichWhere stories live. Discover now