Siebzehn

300 31 5
                                    

Die Kapuze ziehe ich mir wieder über die braunen Haare, da draußen mittlerweile ein frischer Wind weht, an dem der Geruch von frischem Regen hängt.
Obwohl wir vor vielleicht drei Minuten erst eingecheckt sind, sitzt nun keiner mehr an der Rezeption.
Beim Telefon angekommen werfe ich zwei Münzen ein und wähle Yeskos Nummer. Eine der wenigen, die ich zum Glück aus dem Kopf kann.
Während das Tuten ertönt, kommt mir erst der Gedanke, ob er überhaupt noch wach ist um diese Zeit. Diese Sorge zerschlägt sich, als er bereits nach dem dritten Ton abnimmt.
»Yesko Havering, wer ist da?«,fragt er und ich muss schwach lächeln bei seiner Stimme.
»Hey, ich bin's«,antworte ich und muss noch etwas mehr lächeln, als am anderen Ende der Leitung ein erleichtertes Aufatmen zu vernehmen ist.
»Zum Glück, wo seid ihr?«,erwidert Yesko. Ich lehne mich rückwärts an die Wand neben dem Telefon, während ich ihm antworte.
»In einem Motel kurz vor Wiggins, wir haben noch einen Jungen abgeholt, sein Name ist Keith.«
»Ist er auch ein...« Es klingt fast so, als wolle er den Begriff nicht aussprechen.
»Ein Bluthexer? Ja. Er kommt mit nach Dysia und ich nehme an wir werden auch die Ausbildung gemeinsam machen, er ist etwa in unserem Alter. Obwohl ich mir nicht sicher bin wegen der Ausbildung, denn er weiß so schon anscheinend viel mehr von der Wesenwelt als ich.«
Meine Stimme ist gedämpft, um zu vermeiden, dass ein Außenstehender das Gespräch zufällig mithören könnte.
Trotzdessen, dass ich die ganze Fahrt über nichts mehr wollte als Schlafen, bin ich nun wieder komplett wach. Vorallem, weil ich nicht weiß, wie oft ich in nächster Zeit noch dazu kommen werde mit Yesko zu reden.
»Ist er wenigstens nett?«,fragt Yesko weiter und ich höre wie er sich um zu positionieren scheint.
Meine Schultern heben sich leicht, obwohl er das nicht sehen kann, weshalb ich ein 'Keine Ahnung' hinterher setze. »Wir haben nicht viel miteinander geredet bis jetzt, er scheint selbst etwas verschwiegen zu sein«,meine ich nachdenklich,»Aber lass uns nicht über ihn reden, wie geht's dir?«
Ich höre meinen Bruder kurz mit den Worten ringen, ehe er mir antwortet.
»Ich weiß nicht, das Haus ist so seltsam still. Obwohl still trifft es nicht wirklich, tot beschreibt die Stimmung besser.«
Seine Stimme klingt gegen Ende hin niedergeschlagen, aber fast ein wenig monoton, woraufhin mein Herz sich ein wenig zusammenzieht. Es klingt nicht nach dem Yesko, den ich kenne. Obwohl ich, wenn ich drüber nachdenke, ebenfalls nicht wie ich selbst klinge, wenn ich so trocken über Bluthexen und die Wesenwelt rede.
»Ist Mum immer noch...«,beginne ich, doch Yesko kommt mir mit der Antwort zuvor, bevor ich die Frage beenden kann. »Nein, Dad hat sie vor einer Stunde im Garten begraben, hinten unter der Weide«,erklärt er und klingt dabei unglaublich müde.
»Aber man kann doch nicht einfa-«
Wieder unterbricht er meine verwirrte Stimme.
»Ja, aber noch weniger kann man eine Leiche vom Bestatter holen lassen, die ganz offensichtlich umgebracht wurde, ohne, dass man erklären kann wie, weil es alles mit irgendwelchem Magiekram zusammenhängt«,entgegnet er hart, was mich leicht zusammenzucken lässt und die Erschöpfung spricht nur noch deutlicher aus seiner Stimme. Wieder beschleichen mich leichte Schuldgefühle und ich habe das starke Bedürfnis mich bei Yesko zu entschuldigen. Schließlich ist es unumstrittener Maßen meine Schuld, dass sein Leben jetzt auf einmal so ein Chaos ist.
»Miena, hör auf dir darüber so viele Gedanken zu machen«,meint er allerdings nur, als ich ihm meine Gedanken mitteile.
»Erstens: Du konntest es weder wissen, noch hättest du einen der Vorfälle vermeiden können, es hat dir ja nie jemand erklärt und es war keiner da der dir erklären konnte, wie du es kontrollieren kannst. Zweitens: Es wäre dennoch nicht für immer geheim geblieben. Selbst wenn du nicht hier gewesen wärst, hätte mir immer noch genau das Selbe passieren können. Drittens: Es gibt dir keiner die Schuld an dem was passiert ist.«
»Dad tut es«,murmele ich leise, während meine Finger unruhig mit dem Telefonkabel herumspielen und ein paar Momente scheint Yesko darauf wirklich nichts erwidern zu können. »Er meint es nicht so...«,entgegnet er schließlich ebenso leise und ein paar Sekunden herrscht Stille in der Leitung. Wir beide wissen, dass das eine Lüge ist.
Schließlich räuspere ich mich leicht und breche die Stille.
»Was ist mit den Verwandten, was wird er ihnen sagen?«,frage ich, um auf das ursprüngliche Thema zurückzukommen. Auch Yesko scheint froh zu sein, das Thema ruhen lassen zu können.
»Er hat gesagt er würde sich darum kümmern, aber erklärt wie, hat er nicht«,antwortet er. »Mhh«,entgegne ich nur nachdenklich.
»Wie lang braucht ihr bis nach Dysia?«,erkundigt sich Yesko. »Alysanne sagte wir werden entweder morgen oder übermorgen ankommen, weil wir den letzten Teil zu Fuß zurücklegen müssen«,erkläre ich und ein Tuten ertönt, was wahrscheinlich heißt, dass der Anruf gleich enden wird und ich will schon eine weitere Münze einwerfen, bevor mir auffällt, dass ich sie mir vielleicht besser aufheben sollte, falls ich in den nächsten Tagen zufällig Geld bräuchte. Auch wenn nur, um Yesko zu einem anderen Zeitpunkt noch einmal anzurufen, was an sich schon ein gutes Argument ist.
»Yesko ich muss auflegen, ich versuch dich morgen nochmal anzurufen, falls ich ein Telefon finde«,teile ich ihm mit und höre ein leichtes Seufzen am anderen Ende.
»Okay«,meint er jedoch dann nur sanft,»Pass auf dich auf.«
»Du au-«
Das Freizeichen ertönt.
Seufzend stoße ich mich von der Wand ab und hänge den Hörer zurück auf die Gabel.
Mein Blick widmet sich einen Moment meiner Umgebung, die ich während des Telefonats komplett ausgeblendet habe, was - wie mir jetzt erst auffällt - ziemlich leichtsinnig war. Die plötzliche Stille, sowie die drückende Finsternis außerhalb der Reichweite der verdreckten Wandlampen am Motel, jagen mir einen eisigen Schauer über den Rücken und ich vergrabe die Hände in den Jackentaschen, um mich schnellen Schrittes auf den Weg hinauf zu meinem Zimmer mit Keith zu machen.
Die Tür ist verschlossen und ich versichere mich nochmal kurz, dass das wirklich unser Zimmer ist, ehe ich klopfe.
»Fÿv va loc?«,kommt es von drinnen.
Ich runzele die Stirn, weil ich natürlich kein Wort der seltsamen Sprache verstehe. Dennoch verspüre ich bei ihrem Klang immer noch ein fremdartiges Gefühl, so als würde ich sie doch irgendwoher kennen.
»Hier ist Miena«,gebe ich also nur zurück.
Kurz herrscht Stille, so als würde er zögern.
Ich seufze, schmunzele aber.
»Ezekiel, mach auf«,füge ich hinzu.
Ein Klicken ertönt als die Tür aufgeschlossen wird und Keith lässt mich leicht grinsend rein. »Wenigstens einer hier akzeptiert meine Wünsche«,meint er, während ich mich an ihm vorbei ins Zimmer schiebe, ehe er den Türflügel zurück in das Schloss schiebt und abschließt.
Auf seinem Bett liegt ein offenes, in rotes Leder gebundenes Buch mit dem Rücken nach oben.
Keith legt sich zurück ins Bett und schnappt sich wieder seine alt wirkende Lektüre.
Entgegen meiner üblichen Neugier interessiert es mich auch wenig, was er liest und das Schweigen was die meiste Zeit zwischen uns herrscht ist mir eigentlich ganz angenehm.
Ich fühle mich sowieso nicht in der Lage ausgiebige Gespräche zu führen.
Heute hab ich weder Lust noch irgendetwas zu tun, noch auch nur eine einzige weitere neue Information aufzunehmen. Mein Kopf brummt ohnehin schon.
Deswegen beschließe ich auch nicht jetzt nach der seltsamen Sprache zu fragen, wie ich es mir bereits seit heute Nachmittag vorgenommen habe. Stattdessen gehe ich zu meinem Rucksack, um mir sowohl mein Badzeug, als auch bequeme Sachen zu schnappen und im Badezimmer zu verschwinden.
Der kleine angrenzende Raum ist nicht weniger schäbig, als das Zimmer selbst, aber es geht immer noch schlimmer.
Nachdem ich kurz auf dem Klo war, mache ich mich daran mich umzuziehen und Zähne zu putzen.
Erst als ich mein Gesicht wasche und es anschließend abtrockne, werfe ich einen Blick in den Spiegel über dem Waschbecken, was ich bis jetzt unterbewusst vermieden zu scheinen hab.
Ich sehe noch viel müder und ausgelaugter aus als heute morgen noch. Dazwischen scheinen aber auch Welten und Jahrtausende zu liegen.
Ein starker Wunsch jetzt einfach zuhause in meinem Bett zu liegen überkommt mich. Oder mit Amber in unserem Lieblingsdiner zu sitzen oder bei Bill zuhause einer seiner Diskussionen mit Carter zuzuhören. Einfach irgendetwas Normales, etwas was keine Magie oder Wesen beinhaltet. Ich vermisse Ambers Optimismus. Den könnte ich gerade mehr als gut gebrauchen. Trotzdessen, wie ich mit Bill auseinander gegangen bin, vermisse ich auch ihn. Vielleicht auch gerade deshalb.
Schnell fokussiere ich meine Gedanken wieder aufs hier und jetzt, bevor ich wieder anfangen kann zu weinen.
Ich tausche noch meine Straßenkleidung gegen Schlafsachen und verlasse das Bad dann wieder, bewusst mich nicht noch einmal meinem Spiegelbild stellend.
Die Bettdecke riecht muffig, aber auch das ist mir relativ egal, als ich mich mit dem Gesicht zur Wand darunter verkrieche.
Nur kurz darauf höre ich wie Keith seufzend das Buch auf den Nachttisch schiebt, dann legt sich Dunkelheit über das Zimmer wie ein schweres Tuch.
Ich höre wie er sich in seinem Bett neben mir kurz wälzt, dann ist es still, bis auf die gelegentlichen Geräusche vorbeifahrender Autos.
Die Ruhe und Dunkelheit umfängt mich unbehaglich.
Auch wenn ich mir den ganzen Tag schon Gedanken über diese Dinge machen muss, hört auch jetzt mein Kopf nicht auf zu arbeiten.
Alles ist so schnell passiert, dass ich erst jetzt langsam alles realisiere. Realisiere, dass es wahr ist, auch wenn es wie ein seltsamer Fiebertraum klingt.
Ich habe mein Zuhause und meine Familie verlassen, um mit zwei Fremden quer durchs Land zu fahren, zu einem Ort, von dem ich gestern noch nicht einmal ahnen konnte und auch jetzt noch nicht wissen kann, ob es ihn wirklich gibt. Wie kann ich mir sicher sein, dass Alysanne wirklich auf meiner Seite ist und nicht zu diesen Männern gehört die Mum und die Jungs getötet haben?
Und wie kann ich mir bei Keith sicher sein, dass er nicht auch dazu gehört?
Wie kann ich mir gerade überhaupt über irgendetwas sicher sein, wo ich nur so wenig weiß bisher?
Ich hab mein ganzes Leben schon nur die Hälfte der Geschichte gekannt, nur die halbe Welt.
Jetzt weiß ich, dass sie existiert, diese andere Hälfte, aber dennoch weiß ich nichts über sie. Wie kann ich überhaupt irgendjemandem hier trauen?
Plötzlich wünsche ich mir nie gegangen zu sein.
Ich könnte immer noch verschwinden, mich einfach rausschleichen.
Doch draußen könnten mich die Lyceray viel einfacher schnappen.
Aber wenn ich hier bliebe würde das vielleicht aufs Gleiche hinauslaufen. Allerdings hätte Alysanne, hätte sie mir etwas antun wollen, es schon längst getan.
Das ist der Punkt, der mich davon überzeugt, dass es vermutlich doch sicherer hier ist, als allein dort draußen.
Zumindest für jetzt.

Die Bluthexen I - Denn Blut ist gefährlichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt