I

47.5K 1.5K 366
                                    




Das kalte Getränk ran meine Kehle hinunter und hinterließ ein süßlich brennendes Gefühl. Das bekannte Brennen des Alkohols wirkte auf mich schon fast tröstlich. Ich betrachtete die halb leere Flasche aus zusammen gekniffenen Augen. Bilder aus einer längst vergangenen Zeit drängten sich vor mein inneres Auge und mühevoll versuchte ich sie zu verdrängen, doch der Alkohol in meinen Blut schwächte mich auch seelisch. Es dauerte nicht lange bis sich die gut vergrabenen Erinnerungen meiner Kindheit wieder in mein Bewusst sein gekämpft hatten.

Es war eine Erinnerung an meinen älteren Bruder. Wir saßen gemeinsam mit unseren Eltern in dem großen Garten und der süßliche Duft des alten Kirschbaums lag in der Luft. Mein Bruder war neuerdings von der Frage besessen ob ein Mensch das Glas immer als halb leer oder halb voll ansah und was das über ihn aussagte. Ich konnte mich noch genau an seine strenge und liebevolle Stimme erinnern wenn er mir erklärte das ich die Welt in einem viel zu schlechten Licht sah. Wie unrecht er doch damals hatte. Den tatsächlich die Welt ist schlecht, grausam und ungerecht. Denn sonst wäre er ja nun nicht tot und ich nicht hier.

Die lange in meinem Inneren versteckten Gefühle kämpften sich wieder hervor, inzwischen wusste ich nicht einmal mehr ob es sich dabei um Wut oder Trauer handelte. Vermutlich etwas von beidem.

Ich schlug einige Male mit meinem Kopf gegen die kalte Steinwand hinter mir in der Hoffnung diese Erinnerungen, Gedanken und Gefühle endlich loszuwerden. Immerhin wusste ich wie gefährlich es sein könnte, sollten die anderen auch nur für einen kurzen Moment meine Schwäche bemerken.

Doch der Strom an Erinnerungen wollte einfach nicht loslassen, wie immer wenn ich mal wieder zu viel getrunken hatte. Erinnerungen an die Zeit vor dem Wilden Krieg. Bald würde das Ende des Krieges gefeiert werden, ich hatte es auf viele Plakaten gelesen.

Sie wollten den Sieg feiern, die Freiheit.

Und ich würde 10 Jahre Gefangenschaft und Schmerz feiern.

10 Jahre ohne meine Eltern und meinen Bruder.

10 Jahre alleine.

Ich erinnerte mich noch gut daran wie mein Vater und mein Bruder damals in den Krieg gezogen waren. Genauso gut erinnerte ich mich daran wie ich vor dem Fernseher saß als sie kamen. Ich drückte mich weinend an meine Mutter und wartete. Der Fernseher zeigte die Live Bilder der Stadtgrenze und lange war es einfach nur still. Sekunden wurden zu Minuten, Minuten zu Stunden. Irgendwann dachte ich schon, der Kampf wäre vorbei. Sie wären besiegt wurden bevor sie überhaupt unsere Stadt erreicht hatten.

Wenige Stunde später wurde mir klar dass das nicht stimmte. Mir wurde klar, dass es keine Möglichkeit gab sie aufzuhalten. Es war schon Dunkel als sich ihre mächtigen Köper langsam am Rande des Waldes abzeichneten. Ich hatte noch nie in meinem Leben etwas gesehen das so majestätisch und zugleich mörderisch aussah. Sie waren sicher zwischen 2 und 5 Meter groß.

Wölfe.

Werwölfe.

Immer mehr strömten aus dem finsteren Wald und ihr glänzendes Fell leuchtete im Mondlicht. Vermutlich hätten wir nicht mal gegen eine Gruppe von 5 oder 6 Wölfen die geringste Chance gehabt. Doch schnell war mir klar das es sich hier um über 100 Werwölfe handelten müssen. Es war kein richtiger Kampf, die Unseren wurden einfach nur abgeschlachtet. Nach 5 Minuten war es vorbei gewesen.

Meine Mutter hatte mich an sich gedrückt und versucht mich von den grausamen Bildern zu bewahren. Doch ich hörte die Geräusche der brechenden Knochen und auseinanderreißender Haut. Die Tränen meiner Mutter tropften auf meinen Kopf und die meinen Tropften auf den dunklen Fußboden.

Nachdem es einige Minuten still gewesen waren hörte man dann ein heulen. Doch es kam nicht aus dem Fernseher. Sie waren bereits in der Stadt.

Dann ging ein Ruck durch den Körper meine Mutter. Sie schnappte meine Hand und rannte mit mir in die Küche. Sie griff mit flinken Händen nach der großen Küchenschere. Sie brüllte mich mit Tränen in den Augen an mich umzudrehen. Ängstlich tat ich was sie mir sagte.

Sie setzte die kalte Metallschere knapp über meinem Ohr an meinen Haaren an und schnitt meine kompletten Haare ab.

Noch immer höre ich ihre zitternde Stimme als sie mir immer wieder erklärte das ich so tun sollte als wäre ich ein Junge. Das sie nicht wüsste was die Wölfe mit uns tun würden aber sie würden mit kleinen Mädchen etwas schlimmeres tun als mit kleinen Jungs.

Ich hatte damals nur nicken können auch wenn ich es nicht verstanden hatte. Es dauerte nur noch wenige Wimpernschläge da flog unsere Haustür auf. Ohne ein Wort zogen die jungen Männer meine Mutter von mir weg und mich in eine andere Richtung.

Nur noch verschwommen erinnerte ich mich daran wie sie mich mit einer Gruppe Jungs in einen LKW steckten.

Und dann fuhren wir fort. Stunden lang ohne Pause und ohne irgendeine Erklärung. Wir fuhren und fuhren. Bis auf das weinen und wimmern der anderen Kinder war es totenstill. Ich weinte nicht, ich wimmerte nicht. Immer wieder flüsterte ich die letzten Worte meiner Mutter:

Ich bin Alex, ich bin ein Junge, ich bin ein Kämpfer und ich werde überleben.

Fight, Love or DieWhere stories live. Discover now