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Kommissar Treibel hatte sich an den Tatort begeben und führte im Gemeinschaftsraum, in dem die Pfleger bei einigen Tassen Kaffee und einer Kippe  gewöhnlich ein Päuschen machten, eine Vernehmung der Zeugen durch.
Zuerst befragte der Kommissar den Pfleger, den der vermeintliche Mörder als Geisel genommen hatte.
Zu Treibels Verwunderung sagte der Mann aus, dass er nichts Negatives über den Täter berichten könne. Der habe ihm zwar mit der Spritze ganz schön Angst eingejagt, doch sei sich der Pfleger sicher gewesen, dass ihm nichts passieren werde. Auch seien ihm nie Symptome an diesem Mörder aufgefallen, die auf Wahnsinn hätten schließen lassen. Das Mordopfer allerdings sei für seinen Sadismus gegenüber Patienten bekannt gewesen, was ihm schon einige Verwarnungen eingebracht habe.
Die Vernehmung der anderen Pfleger brachte keine weiteren Erkenntnisse. Jeder schien sich ein eigenes Bild vom Mörder gemacht zu haben.

Treibel war zurück im Büro. Die Kaffeemaschine brodelte und brummte so vor sich hin, als ein Kollege mit einem jungen Mann ins Zimmer trat und ihn als Praktikanten von der Polizeifachhochschule vorstellte. Paul Knotze, ein groß gewachsener, dicklicher Kerl, Anfang zwanzig.
Der Praktikant lieferte sogleich eine erste Demonstration seiner Fertigkeiten, als er sich auf die falsche Seite des Schreibtisches, den heiligen Sessel des Hauptkommissars, setzte und ihn, der stets ein Bild seiner geliebten Mutter auf dem Schreibtisch stehen hatte, fragte, ob die Dame auf dem Foto die werte Gattin sei.
Treibel verkniff sich eine böse Bemerkung und ließ den Toffel auf dem Sessel Platz behalten.
Im anschließenden Gespräch erfuhr der Kommissar, dass der Student Paul Knotze diesen Mordfall begleiten und anschließend einen Bericht darüber erstellen sollte.
Trotz des denkwürdigen Auftritts des neuen Praktikanten fand ihn der Kommissar von Minute zu Minute angenehmer, was natürlich daran liegen konnte, dass Paul mit seinem chaotischen Naturell sich als das genaue Gegenstück des Kommissars erwies. Dieser Gegensatz konnte durchaus eine gute Grundlage für eine harmonische Zusammenarbeit sein.
Paul war in diesem Büro ein wenig mulmig zumute, wusste er doch von dem exzellenten Ruf, den Hauptkommissar Treibel überall genoss. Lieber wäre der Praktikant an einen unbedeutenden Kommissar, irgendeiner Niete oder verkrachten Existenz, geraten, da ein solcher Vorgesetzter nicht allzu viel von Paul verlangt hätte. Doch jeder Student, der sich um ein Praktikum an dieser Polizeibehörde bewarb, konnte froh sein, wenn er überhaupt genommen wurde.
Als Treibel sein Lehrbuch „Die kriminalistische Ermittlung" erwähnte, scheute sich Paul, dem Kommissar zu beichten, welch schlechten Ruf das Lehrbuch bei allen Polizeistudenten genoss. Dieser dicke Wälzer mit dem schwülstigen Stil galt als trocken und unverständlich und Paul hatte das Werk bislang noch nie in Händen gehabt.

Der Kommissar pflegte fortan überall, wo die beiden Ermittler auftauchten, seinen Schüler - natürlich mit einem Augenzwinkern - als „mein unterwürfiges Faktotum" vorzustellen, was Paul nicht als erniedrigend, sondern belustigend empfand.
Das häufigste Thema, worüber sich Treibel und der Praktikant in den kommenden Wochen unterhalten sollten, war die miserable Ausbildung an der Polizeihochschule. Das Studium heutzutage pflegte der Kommissar heftig zu rügen, da es seiner Meinung nach den notwendigen Drill vermissen ließ.

Der EntfloheneWhere stories live. Discover now