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In der Nacht muss sich jemand in unsere Kammer geschlichen haben.
Ich werde von Sallys heftiger Gegenwehr wach. Jemand scheint sich über meine Kleine herzumachen und ihr den Mund dabei zuzuhalten.
Geistesgegenwärtig greife ich zum nächstgelegenen Metallstück in all dem Plunder neben mir und haue es mit Wucht auf den Eindringling, den ich in der Dunkelheit gerade noch so erkennen kann . Er kommt nicht mal mehr zum Aufschreien und sackt leblos zusammen.
Wie wir feststellen, ist es der indianische Seemann, dem ich einen Bootshaken in den Rücken gerammt habe.
Sally wirkt wie teilnahmslos und kuschelt sich an mich.
Beim Matrosen ist kein Puls mehr zu spüren.
Sally starrt auf die Leiche und stellt fest, dass das genauso abgelaufen sei wie letztes Jahr vor der Bar.
Eine Zeit lang sitzen wir stillschweigend in blutverschmierten Klamotten neben dem Toten.
Sally meint, dass das kein Mord war, sondern Notwehr.
Wir schleppen die Leiche an Deck, schmeißen sie - unbemerkt vom Diensthabenden - über Bord. Die Haie werden das Weitere übernehmen.
Als die Sonne aufgeht und unsere Kammer erhellt, beseitigen wir die Spuren der nächtlichen Bluttat.

Am nächsten Morgen fällt auf, dass ein Besatzungsmitglied fehlt.
Die Crew sucht lange nach dem Kerl, findet ihn aber nirgends.
Der Käpt'n erklärt, dass der Matrose wahrscheinlich besoffen über Bord gefallen sei. So was komme schon mal vor auf hoher See. Es sei nicht allzu schade um diesen Mexikaner, der geklaut habe wie ein Rabe.
Am Verhalten der Mannschaft wird uns klar, dass ein Menschenleben hier an Bord nicht viel gilt. Auch uns könnte die Besatzung jederzeit um die Ecke bringen, ohne dass die Tat jemals aufflöge. Niemand auf der Welt würde uns vermissen.

Am Morgen schenkte Paul seinem Vorgesetzten eine hübsche Orchidee, die der Praktikant in einem Spezialgeschäft, nicht weit weg vom Hotel, gekauft hatte.
Hauptkommissar Treibel war gerührt und erkannte auf den ersten Blick, dass die Orchidee der Gattung Zygopetalum zuzuordnen war. Ein Gewächs, das in Brasilien zu Hause war und eine Mindestemperatur von zwölf Grad erforderte.
Treibel durfte sogar einige Abschnitte aus Pauls Drehbuch lesen, an dem er täglich auf dem Laptop schrieb, und lobte, dass Paul ein wahrer Wortkünstler sei, wobei der Kommissar es taktvoll unterließ, auf die vielen Rechtschreibfehler hinzuweisen.

In der letzten Nacht hatte Treibel, als er auf der viel zu weichen Matratze keinen Schlaf fand, überlegt, welche Ratschläge der Kommissar seinem Praktikanten noch mit auf den Lebensweg geben könnte.
Nun beeilte sich der Kommissar, einige davon aufzuzählen, da das Gespräch jederzeit durch das Klingeln von Pauls Handy - mittlerweile rief ihn Lola gut 50-mal am Tage an - unterbrochen werden konnte.
Der Praktikant gab vor, an den belehrenden Worten seines Vorgesetzten interessiert zu sein, denn Paul wollte die letzten Tage seines Praktikums in einer angenehmen Atmosphäre ausklingen lassen.
Treibel redete drauflos. Es folgte Ratschlag auf Ratschlag und zu guter Letzt wollte der Kommissar einen ganz persönlichen Tipp von Mann zu Mann geben. Wenn es später mal für Paul ans Heiraten gehe, solle er genau prüfen, ob er auch nur den leisesten Zweifel an der Partnerin habe. Und wenn das der Fall sei, solle der Praktikant lieber die Finger davonlassen.

Der EntfloheneWhere stories live. Discover now