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Endlich hatte Treibel die beiden Gesuchten gestellt und legte ihnen Handschellen an. Dann führte er das Pärchen zum vergitterten Kastenwagen. Paul begleitete den Kommissar im bunten Kasperkostüm mit Schellenkappe. Auf einmal tauchte Frau Innenministerin Kowalski auf, klopfte Treibel mit breitem Grinsen auf die Schulter und lobte, dass das wieder ein wahrer Geniestreich gewesen sei, wie sie es von ihrem Musterkommissar, dem besten im Lande, gewohnt sei. Ehrfurchtsvoll verbeugte sich Treibel vor der Ministerin. Der Kastenwagen brachte das gesuchte Pärchen in die Vollzugsanstalt, wo es in einen düsteren Keller geführt und von einem bereitstehenden Scharfrichter mit schwarzer Kapuze gehängt wurde. Ein schrecklicher Anblick, die beiden Hingerichteten mit blau angelaufenem Kopf und heraushängender Zunge an einem Strick baumeln zu sehen.

Schrill klingelte der Wecker.
Treibel erwachte schweißgebadet. Was für ein Traum!
Nein, so ein erbärmliches Ende wünschte der Kommissar dem Pärchen nicht.
Treibel nahm sich vor, den bizarren Traum für sich zu behalten und war verblüfft, welch Fantasiegespinste sich das Hirn, das am Tag fehlerfrei funktionierte, in der Nacht ersann.

Eine Stunde später waren Hauptkommissar Treibel und Paul mit dem Wagen zu der Adresse unterwegs, auf die das Fluchtfahrzeug des Pärchens, ein VW Käfer, Baujahr'78, zuletzt zugelassen war. Das bedeutete eine lange Fahrt zurück in den Süden.
Obwohl Paul beim Schach noch nie gegen seinen Computer, selbst in der höchsten Schwierigkeitsstufe, verloren hatte, musste sich der Praktikant gestern Abend gegen Treibel dreimal geschlagen geben.

Während Treibel feststellte, dass der Einödhof, zu dem die Ermittler unterwegs waren, doch abgelegener war als gedacht und die Straßen immer enger und schlechter wurden, begann der Kommissar zu berichten, was in den Akten über das Leben des gesuchten Täters stand. Die hatte sich Treibel gestern nach den Schachpartien noch einmal zu Gemüte geführt.
Der Kommissar erklärte, dass das Leben des Mörders von Anfang an unter keinem guten Stern gestanden habe. Schon in früher Kindheit seien der Gesuchte und sein Bruder in ein Heim gekommen, nachdem sich ihre drogenabhängige Mutter, eine Prostituierte, eine Überdosis gesetzt habe. Die beiden Kinder hätten zwei Tage ohne Essen und Trinken an der Leiche verharrt, bis die Kleinen wimmernd von einer Nachbarin entdeckt worden seien. Der Vater der Kinder sei wegen Raubmordes zu lebenslanger Haft verurteilt worden und habe sich im Knast erhängt. Im Heim hätten die Brüder als schwierig gegolten und seien etliche Male ausgebüchst. Mit zehn habe der gesuchte Täter den Heimleiter lebensgefährlich mit einem Messer verletzt und sei daraufhin in ein Heim für Schwererziehbare verlegt worden. Von dort sei der Junge im Alter von zwölf unter Einsatz einer gestohlenen Schusswaffe getürmt und zusammen mit seinem Bruder ein halbes Jahr unauffindbar gewesen. Schließlich habe man die beiden 150 Kilometer vom Ausgangsort entfernt nach heftiger Gegenwehr gefasst. Nach der Schulzeit habe der verhaltensgestörte Täter verschiedene Lehrstellen - wohl auf Anraten seiner Freundin, einer Sally Fips - angetreten, doch nie zu Ende geführt. Der alkoholkranke Bruder habe im Alter von achtzehn eine Limousine gestohlen und sich totgefahren. Bei der Obduktion sei ein Promillespiegel von 3,61 festgestellt worden. Den Tod des Bruders habe der Täter rächen wollen und sei eines Nachts in die Wohnung eines Unfallbeteiligten eingestiegen, habe ihm in einem Gerangel mehrfach Arme und Beine gebrochen. Dann, einige Jahre später, sei es zum ersten Mord des Gesuchten gekommen, als Sally Fips auf dem Nachhauseweg von einer Nachtbar, in der sie als Tänzerin gearbeitet habe, offenbar von drei Männern überfallen und vergewaltigt worden sei. Ihr Freund sei hinzugekommen und völlig ausgerastet. Er habe solange auf einen der Sexualtäter eingeschlagen, bis dessen Schädel über dem Pflaster verstreut gewesen sei. Den genauen Tathergang habe die Kripo nie ermitteln können. Sally Fips habe jedenfalls vor Gericht ihren Freund in Schutz genommen und ausgesagt, dass der Vergewaltiger den grausamen Tod vedient habe. Nach dem Mord sei der Täter in einem Gutachten für schuldunfähig befunden und in eine psychiatrische Anstalt verbracht worden, wo es sechs Monate später zu dem Mord an dem Pfleger gekommen sei.
Paul musste erst mal tief durchatmen.
Ihm war bei dem Gedanken, diesem kaltblütigen Mörder bald Auge in Auge gegenüberzustehen, das Herz in die Hose gerutscht.
Treibel bemerkte die Angst seines Praktikanten und versuchte, ihn aufzumuntern, indem der Kommissar betonte, dass der Täter nur in Extremsituationen mit Gewalt reagiere. Das habe der Kommissar mittlerweile begriffen, weshalb noch einmal eine sorgfältige Tatanalyse notwendig werde. Vor allem müsse geklärt werden, aus welchem Motiv es zu dem Mord an dem Pfleger gekommen sei.

Treibel und Paul waren trotz Navi gezwungen, sich mehrmals nach dem Weg zu erkundigen.
Es war bereits Mittag, als sie sich auf dem holprigen Feldweg zu ihrem Ziel, einem abgelegenen Gehöft mitten im Wald, befanden.

Der EntfloheneOù les histoires vivent. Découvrez maintenant