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Kommissar Treibel ist nach Indien gereist.
An diesem heißen Nachmittag liegt er mit der Sonnenbrille auf der Nase am Strand von Goa. Die Sonne brennt gnadenlos auf den goldenen Sand hernieder, weshalb sich Treibel unter einer Schatten spendenden Palme verkrochen hat.
Eine schwarzhaarige Schönheit in buntem Sari kommt auf Treibel zu und serviert einen eisgekühlten Ginfizz. Den kann er jetzt brauchen.
Mit einem charmanten Lächeln fragt die englischsprachige Inderin, deren seidiges Haar eine karminrote Blüte ziert, ob Treibel noch etwas wünsche.
Er verneint, denn er ist wunschlos glücklich.

Als der Kommissar vor einigen Wochen unbefristeten Urlaub beantragt hatte, kam diese Entscheidung für die Kollegen völlig unerwartet. Alle waren entsetzt, wollten ihren besten Mann nicht ziehen lassen. Doch hartnäckig bestand der Kommissar auf seinem Vorhaben, von dem ihn selbst der Anruf von Frau Innenministerin Kowalski nicht abbringen konnte.
Drei Tage lang hatte Treibel angestrengt über den einschneidenden Schritt in seinem Leben nachgedacht, bis dem Kommissar schließlich klar wurde, dass er nicht wie seine Mutter in der Todesstunde feststellen wollte, dass er im Leben hätte alles anders machen müssen, dass er letztendlich doch etwas Entscheidendes versäumt habe.

In einem Gästehaus mittlerer Klasse, direkt am Strand, hat sich Treibel einquartiert. Von seinem Zimmer aus, das hübsch mit Schnitzereien aus Rosenholz verziert ist, bietet sich ihm ein prächtiger Blick auf die türkis schimmernde Lagune.
Der Pächter des Gästehauses, ein Aussteiger mit Spitzbart und langen Haaren, die der Kerl mit einem Lederbändchen zusammenhält, stammt ebenfalls aus Deutschland. Treibel ist sogar der Meinung, diesen langmähnigen Hippie mit seinem hässlichen Mischlingshund schon einmal gesehen zu haben. Der Freak ist erst seit Kurzem in Indien und will sich hier mit dem Gästehaus eine neue Existenz aufbauen. Er teilt mit Treibel das gleiche Schicksal, denn die Frau des Hippies ist vor Jahren mit einem anderen Mann durchgebrannt. Auf dem Feld hinter der Pension baut der Aussteiger  - was für einen Fachmann wie Treibel unschwer zu erkennen ist - Hanf an, was die euphorische Stimmung und den Rededrang des Blumenkindes erklärt. Meistens trägt der ausgeflippte Typ eine rosa Sonnenbrille in Sternchenform, die ihm einst Gäste geschenkt haben.
Die rassige Inderin, die gerade auf dem Weg zurück zum Gästehaus ist, hat der Hippie als Zimmermädchen und für die Bewirtung der Gäste eingestellt. Eigentlich ist es diese Frau, die den ganzen Laden schmeißt.
Dem Hippie bleibt allein das Kochen. Doch leider ist er eine kulinarische Niete, weshalb Treibel es vorzieht, am Abend auswärts zu essen.
Doch zuvor will er noch von seinem Stammplatz unter der Palme den malerischen Sonnenuntergang genießen. Diesen überwältigenden Anblick, wenn die orangefarbene Kugel sich langsam und majestätisch dem Horizont nähert.
Anschließend wird sich Treibel zum Strandrestaurant - keine 200 Meter entfernt - aufmachen, um sich dort auf der Terrasse ein köstliches Fischgericht und einen Brandy zu gönnen.
Die Zeiten von Magenschonkost und Kamillentee sind vorbei; auch der Schlaf ist in Indien viel erholsamer geworden.
Treibel, der zufrieden mit seiner jetzigen Lebenssituation ist, befindet sich in einem Zustand, den er vor Wochen einmal als Glück definiert hat.
Der Kommissar hat sich sogar vorgenommen, demnächst die hübsche Inderin zu einem erlesenen Essen einzuladen und sie dabei zu fragen, ob sie ihm nicht einige Unterrichtsstunden in Hindi erteilen könne. Die Inderin, an der Treibel zugegebenermaßen Gefallen findet, ist - wie der Kommissar ermittelt hat - seit drei Jahren verwitwet, als ihrem Mann recht unglücklich eine Kokosnuss auf den Kopf gefallen war.

Nun holt Treibel die Ansichtskarte, die er heute früh an der Zeitungsbude gekauft hat, aus seiner Tasche und beginnt, dem ehemaligen Prakikanten Paul ein paar Zeilen zu schreiben. Er solle unbedingt hierher nach Indien kommen, sobald das Studium das erlaube, und Lola könne er natürlich mitbringen. Die Kosten für die beiden Flugtickets werde Treibel übernehmen. Er freue sich schon jetzt auf eine spannende Partie Schach und wolle Paul wieder mal schachmatt setzen. Er solle dran denken, dass Freiheit nichts anderes sei, als das eigene Lebensziel selbst zu bestimmen, ohne sich dabei von Menschen oder Umständen beeinflussen zu lassen, und dann in einem persönlich gewählten Tempo auf dieses Ziel hinzusteuern.

Schon vor einer Woche hat Treibel in einem Telefongespräch mit Paul erfahren, dass sein Fallbericht dank der Hilfe des Kommissars mit der Bestnote bewertet worden sei. Seit dem Praktikum habe Paul in allen Studienfächern viel bessere Noten. Das habe er vor allem den guten Ratschlägen des Hauptkommissars zu verdanken. Auch etwas Privates verriet Paul am Telefon: dass er sich mit seiner Lola verlobt habe und sie vielleicht in diesem Jahr noch heiraten werde. Gegen Ende des Gesprächs berichtete Paul davon, was er über Treibels ehemalige Arbeitskollegen erfahren habe. Sie hätten dem Polizeipräsidenten gegenüber behauptet, ihr früherer Mitarbeiter Treibel habe im Leben ganz schön Schiffbruch erlitten und werde jetzt irgendwo in der Ferne untergehen.

Treibel findet diese Einschätzung seines derzeitigen Lebens, des Lebens eines Taugenichts, wie es der Kommissar scherzhaft nennt, erheiternd.
Genussvoll schlürft er an seinem Ginfizz.
Es macht Treibel absolut nichts aus, dass seine früheren Kollegen, die sich bei seiner Verabschiedung noch ganz anders geäußert und ihn in einer scheinhaltigen Laudatio einen Menschenfreund und Weltbürger genannt haben, nun offenbar denken, dass er nicht ganz bei Trost sei.

Morgen wird der Kommissar wieder seiner Tochter schreiben, ihr eingehend von allen Veränderungen in seinem Leben berichten. Er hofft, dass sie dieses Mal den Brief entgegennimmt, besonders wenn sie den ungewohnten Absender und die seltsame Briefmarke auf dem Umschlag bemerkt.
Sobald Treibel den Brief am Postamt aufgegeben hat, wird der Kommissar zum anderen Ufer der Bucht schippern, um endlich einmal die Gegend zu erkunden, die er bis jetzt immer nur unscharf in der Ferne erkennen konnte. Im Kunstführer, den Treibel gestern studiert hat, entdeckte er den Hinweis, dass es an dem Ort dort drüben eine hübsche Kirche mit vergoldetem Altar geben soll, die noch zu der Zeit errichtet wurde, als Goa ein portugiesischer Stützpunkt war.
Treibel hat sich vorgenommen, zunächst ein Jahr in Goa zu bleiben, um dann eine endgültige Entscheidung darüber zu treffen, ob er für immer an diesem Ort leben will. Doch bis dahin ist es noch lang und der Kommissar mag nicht so weit in die Zukunft denken. Vielmehr wird er versuchen, einfach einen Tag nach dem anderen bewusst und intensiv zu leben. Treibel hat sich geschworen, das vor ihm liegende Jahr nur aus dem einen Grund zu unterbrechen, falls die Tochter sich rühren und den Vater zu sich nach Ohio einladen würde.

Der Kommissar nippt an seinem Ginfizz und widmet sich wieder der Strandlektüre, die aufgeschlagen neben ihm liegt: Hesses „Steppenwolf". Treibel ist gerade an der Stelle, wo der Protagonist Harry Haller im Opiumrausch das Magische Theater betritt und den Intellekt wie einen Hund vor der Türe stehen lässt.

Der EntfloheneWhere stories live. Discover now