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Es ist nicht leicht, bei tiefer Dunkelheit durch einen Wald zu hasten.
An der linken Hand, die ich nach hinten strecke, halte ich Sally. Sie soll hinter mir bleiben, dort kann ihr nichts passieren. Mit der rechten Hand versuche ich trotz der Tasche, die ich umhängen habe, nach Hindernissen in der Finsternis zu tasten.

Doch was ich habe kommen sehen, tritt ein: Mit dem Schädel pralle ich gegen einen mächtigen Baumstamm. Den dumpfen Knall höre ich gerade noch, dann herrscht tiefe Stille.

Als ich die Augen wieder aufschlage, sehe ich Sallys Kopf über mir. Mit den Fingern streicht sie über mein Gesicht und ruft dabei immer wieder meinen Namen.
Sally scheint gewaltig erschrocken zu sein und drückt mir nun erleichtert eine ganze Reihe von Küssen ins Gesicht.
Leicht benommen rapple ich mich hoch. Wir müssen weiter, dürfen keine Zeit verplempern.
Jetzt übernimmt Sally die Führungsposition und versucht gleichfalls, die tiefe Dunkelheit vor uns auszutasten. Sally macht's auf andere Weise und stellt sich dabei viel geschickter an.

Es muss jetzt gegen zwei oder drei sein. Immer noch flüchten wir durch die Dunkelheit, sind mittlerweile mit Striemen und Kratzern am Körper übersät.
Wir können uns kaum noch auf den Beinen halten, fühlen uns wie breit geschlagene Koteletts.
Wir lassen uns auf den weichen Waldboden sinken, lehnen uns an einen dicken Baumstamm.
Mein Kopf dröhnt und mir ist schlecht.
Sally vermutet eine Hirnerschütterung vom Schlag gegen den Baum.
Die lästigen Stechmücken lassen uns nicht in Ruhe, saugen uns das Blut aus dem Körper.

Nach einiger Zeit brechen wir wieder auf.
Sallys Wade beginnt zu krampfen, doch Sally ist zäh, eine Kämpfernatur, unerbittlich mit sich selbst.
Wir hören eine Nachtigall, die mit schluchzendem Gesang unser Schicksal betrauert. Ein bisschen fühlen wir uns wie verirrte Kinder, die mutterseelenallein in einem Wald umherstreifen.

Wenig später können wir nicht mehr, brauchen dringend etwas Schlaf. Das Versteck unter den Hollerbäumen ist hierfür wie geschaffen.

Gegen Mitternacht wurde Kommissar Treibel telefonisch verständigt, dass das gesuchte Pärchen auf einer Autobahnraststätte gesehen und von einem LKW mitgenommen worden war.
Sofort ordnete der Kommissar eine Kontrolle sämtlicher Lastwagen an, die auf der Autobahn in Fahrtrichtung Nord unterwegs waren.

Eine Stunde später erhielt Treibel den nächsten Anruf. Die Täter waren an der errichteten Polizeisperre gestellt worden, doch war ihnen die Flucht in den angrenzenden Wald geglückt.
Das fand Treibel nun weniger erfreulich und die anfängliche Euphorie, die ihn vergangene Stunde hatte unruhig schlafen lassen, war im Nu verflogen.
Der Kommissar beschloss, sich morgen früh beizeiten zu diesem Kontrollpunkt zu begeben.
Um nach solch nächtlichen Ruhestörungen schnell wieder einzuschlafen, hatte es sich Treibel zur Gewohnheit gemacht, alle 214 bisher von ihm gefassten Mörder chronologisch im Gedanken durchzugehen, wobei der Kommissar meist bis zur Nummer 140 oder 150 kam, ehe er fest in den Schlaf sank.

Der EntfloheneWhere stories live. Discover now