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Der Ballonfahrer und seine Freundin kommen bei anfänglich guten Windverhältnissen geradezu ins Schwärmen. Es sei ein wunderbares Gefühl, wie schwerelos im Wind zu gleiten, losgelöst von allem irdischen Gewühl.
Auch ich habe allmählich Spaß an der Sache und finde die Vorstellung, dass allein erhitzte Luft uns durch die Lüfte trägt, unglaublich.
Der Pilot teilt begeistert mit, dass wir uns derzeit in 300 Meter Höhe befänden.
Sally blickt - etwas fahl im Gesicht - nach unten und meint, so was hätte sie auch geschätzt.
Die Freundin des Ballonfahrers erzählt uns euphorisch, dass eine Nachtfahrt mit dem Ballon das Reizvollste überhaupt sei. Ihn in der Dunkelheit glühen zu sehen, das sei ein Anblick, den man nie mehr vergesse.

Nach zweieinhalb Stunden ist der faszinierende Flug zu Ende.
Ganz bis Hamburg haben wir es nicht geschafft, doch ist es dorthin nach den Worten des Piloten nicht mehr weit.
Wir verabschieden uns und marschieren los. Ab in die Richtung, die uns der Pilot gewiesen hat.
Auf einer Streuobstwiese stopfen wir uns den Bauch mit Äpfeln voll, ehe in der Ferne ein Kerl mit blitzender Mistgabel auftaucht.
Immer wieder kommen wir an stolzen Fachwerkhöfen vorbei, die so malerisch sind, dass Sally vermutet, wir hätten uns in Grimms Märchenwelt verirrt.

Als es zu dämmern beginnt, bitten wir einen Bauern, der mit seinem Trecker auf dem Hof herumkutschiert, uns in der Scheune übernachten zu lassen. Natürlich würden wir dafür zahlen.
Der Landwirt sagt zunächst nichts, mustert uns mit stahlblauen Augen und erklärt sich dann bereit.
Er führt uns zu einer reetgedeckten Scheune, die etwas abseits steht.
Hinter dem Schuppen führt ein steiler Hang nach oben, der wohl so was wie eine natürliche Begrenzung des Anwesens darstellt.
Der Bauer öffnet das Scheunentor und meint, wir könnten hier im Heu schlafen. Doch das Geld für die Übernachtung wolle er gleich.

In der Scheune machen wir's uns - so gut es geht - gemütlich.
Sally spricht mir aus der Seele, dass dieser Typ ein ganz schön misstrauischer Geizkragen sei.
Ich fühle mich an diesem Ort nicht wohl, spüre eine merkwürdige Unruhe in mir, die ich Sally nicht anmerken lasse. Ich weiß, die Augen eines Menschen verraten viel und die des wortkargen Bauern waren boshaft. Eigentlich wäre es das Beste, sofort von hier zu verschwinden. Doch Sally neben mir ist schon halb am Pennen.
Ich werde heute Nacht auf der Hut sein und hole schon mal die Knarren aus der Tasche.
Lange Zeit gelingt es mir, die Augen offen zu halten und dem Rumoren zu lauschen, das die vielen Äpfel in meinem Darm verursachen.
Doch irgendwann zu später Stunde übermannt mich der Schlaf.

Unbestimmte Zeit später werde ich wach und schrecke auf.
Ich haste zum Scheunentor und erkenne durch ein kleines Loch die Umrisse zweier Autos, die auf beiden Seiten in einem geschätzten Abstand von zwanzig Metern stehen. Das blinkende Blaulicht dringt in die Scheune und erzeugt am Boden einen hellen Schatten, der dort in immer gleicher Weise entlangwandert.
Mein Herzschlag stockt. Jeden Moment könnte das Tor sich öffnen und Dutzende von Kanonen sich auf uns richten.
Schnell greife ich mir die Knarre, wecke Sally und erkläre ihr die beschissene Lage.
Dann renne ich wieder vor zum Scheunentor und spähe durch das Loch.
Ich schäume vor Wut auf den Bauern, diesen Verräter. Ich hätte große Lust, seinen Hof in Flammen aufgehen zu lassen.
Sally und ich sitzen in der Falle, der absolute Super-GAU ist eingetreten. Vor der Scheune liegt ein Erschießungskommando auf der Lauer und wartet darauf, uns bei nächstbester Gelegenheit abzuknallen. Warum es nicht gleich in die Scheune gestürmt ist, ist mir klar. Die Typen warten auf das SEK.
Von draußen ertönt eine Stimme, wir sollten die Waffen fallen lassen und uns ergeben.
Doch für diesen Humbug bin ich nicht zu haben.
Ich brülle laut, damit jeder vor der Scheune es hören kann, dass die Bullen sich da aber gewaltig geschnitten hätten.
Jetzt gilt es, kaltes Blut zu bewahren, meiner inneren Stimme zu lauschen.
Sally, die Tapfere, ist selbst in ausweglosen Situationen wie dieser ruhig und gefasst.
Ich gebe denen draußen erst mal zu verstehen, dass wir bewaffnet sind, und knalle ihnen eine Kugel um die Ohren. Mit Leichtigkeit hat sie das Scheunentor durchschlagen.
Jetzt werden sie noch vorsichtiger sein und sich hinter ihre Wagen verziehen.
Ich rechne mit etwa fünf bis sechs Mann.
Ein zündender Gedanke muss her, möglichst schnell, denn jeden Moment kann das Einsatzkommando auf dem Hof auftauchen und dann ist Sense. Ich gehe unruhig auf und ab. Krampfhaft versuche ich, meine Gedanken zu sammeln.
Sally beobachtet die Typen solange. Falls sie sich aus der Deckung wagen, soll sie einen Warnschuss abgeben.
Mir fallen an der Wand eiserne Verstrebungen auf, die im rechten Winkel aufeinander zulaufen. Während ich das Gebilde anstarre, schießen mir plötzlich die Worte der alten Bäuerin durch den Kopf. Ich rufe Sally zu: „Das Kreuz aus Eisen! Wie's die Alte gesagt hat."
Sally sieht das Kreuz ebenfalls und meint, dann müssten wir dringend weg von hier, raus aus der Scheune.
Mir fällt das Fläschchen mit dem Stärkungsmittel ein, das uns die Bäuerin gebraut hat. Hastig krame ich es aus der Tasche. Beide nehmen wir einen kräftigen Schluck von dem bittern Zeug.
Ich weise Sally an, beide Knarren im Anschlag zu halten und - sobald ich das Kommando dazu gäbe - über die Köpfe der Bullen hinwegzuballern. Danach solle sie so schnell wie möglich her zu mir rennen.
Wir müssen vorsichtig sein: Ein Schusswechsel ist bei den vielen explosiven Sachen, die hier rumstehen, ein unkalkulierbares Risiko.
Sally umschließt ihr Amulett mit der rechten Hand, küsst es und nimmt dann die Knarren seelenruhig nach oben. Ich weiß, man kann sich auf diese Kriegerin verlassen. Sally hat Nerven aus Stahl.
Ich vertraue meinem animalischen Instinkt, nehme Anlauf und werfe meinen bulligen Körper gegen die hintere Scheunenwand. Der Versuch, sie zu durchbrechen, misslingt. Die Wand ist zu stabil. Natürlich hat diese Aktion einen Höllenlärm gemacht, den die Bullen mit Sicherheit gehört haben.
Das Scheitern hat meinen Adrenalinspiegel und die Kampfeslust gesteigert. Ich nehme all meine Kraft zusammen, stürme wie ein Berserker auf die Wand zu und hämmere mein volles Gewicht dagegen.
Mein Körper prallt ab und ich stürze benommen in herumliegendes Gerümpel.
Sekunden später komme ich wieder zu mir, drehe zuerst zwei Nägel, die sich in meine Wade gebohrt haben, aus der Haut. Dann sehe ich unter all dem Plunder, in dem ich nun hocke, etwas Metallenes aufblitzen. Ich greife danach, ziehe es aus dem Schrott hervor und breche in Jubel aus: ein Beil. Das hat die Bäuerin uns geschickt!
Sofort beginne ich, die Axt in das Holz der Scheunenwand zu donnern. Immer wieder, ganz fest. Darin hab ich Übung.

Es dauert nicht lang, bis ein schädelgroßes Loch in der Wand klafft. Den Rest erledige ich mit dem Fuß.
In der Zwischenzeit hat Sally die verschanzten Bullen mit gelegentlichen Warnschüssen auf Distanz gehalten. Auf meinen Befehl hin ballert Sally nun so richtig drauflos. In jeder Hand eine Knarre schießt Sally aus vollen Rohren und zeigt den Typen draußen, was sie beim Paintball gelernt hat.
Dann spurtet sie zu mir.
Geschickt zwängen wir uns durch die Öffnung in der Wand.
Jetzt schnell den Hügel rauf.

Gleich darauf stürzen die Bullen hinter uns her, doch zu spät. Wir haben bereits einen Vorsprung.
Ich drehe mich kurz zu ihnen um, als sie gerade den Hügel hochkommen, und balle siegreich die Faust.

Der EntfloheneWhere stories live. Discover now