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Am späten Abend waren Hauptkommissar Treibel und Paul von ihrem Aufenthalt im Gebirge zurück. Doch gleich am nächsten Morgen wollten sich die beiden wieder dorthin aufmachen, um dem Verbrecherpaar auf den Fersen zu bleiben.
Natürlich leuchtete es dem Kommissar ein, dass es einfacher wäre, gleich am Ort der Ermittlungen zu übernachten, doch hielt sich Treibel abends am liebsten in seiner Mansardenwohnung auf, wo ihm stets die besten Gedanken gekommen waren, die zur Lösung der Fälle geführt hatten.
Die Verbundenheit mit der Heimatstadt hatte zur Folge, dass Treibel früh und abends oft große Strecken zurückzulegen hatte, was ihm jedoch mit seiner Dienstlimousine, einem wahren Kraftpaket, nichts ausmachte.
Nur wenn die Fahrt zur Einsatzstelle mehr als 300 Kilometer betrug, entschloss sich Treibel meistens zu einer Übernachtung direkt vor Ort. Um für solche Fälle gerüstet zu sein, führte der Kommissar stets eine mittelgroße Reisetasche mit Schlafanzug, Rasierzeug, Zahnbürste und was man sonst für einen mehrtägigen Aufenthalt so brauchte, im Kofferraum des Wagens mit. Auch seinem Praktikanten gab Treibel den Rat, sich vorsichtshalber etwas Handgepäck zusammenzustellen, denn zu jeder Zeit konnte von irgendwoher ein Anruf kommen, dass der Mörder gesehen worden war, und dann galt es, ohne Aufschub zu handeln.
Der Kommissar hatte Paul auch gebeten, im Dienst einen dunklen Anzug zu tragen, um vor Zeugen und Kollegen seriös auftreten zu können.

Treibel setzte sich in seiner Wohnung aufs Sofa und dachte daran, dass heute für seine Exfrau und ihn ein Jubiläumstag, das Fest der silbernen Hochzeit, wäre. Vor 25 Jahren hatten sich die  beiden in einer kleinen Kapelle in den Schweizer Alpen das Jawort gegeben und ewige Treue versprochen. Zum damaligen Zeitpunkt hätte Treibel niemals geahnt, dass er die Silberhochzeit eines Tages allein auf einem abgewetzten Sofa verbringen würde.
Treibel pflegte sich über seine schwermütigen Phasen, die ihn ab und zu ohne Vorwarnung befielen, dadurch hinwegzuretten, dass er konsequent die durchorganisierten Tage abarbeitete und so dem Trübsal keine Chance gab, sich auszuweiten und am Ende übermächtig zu werden.

Treibel stellte vom Wohnzimmer aus gerne Recherchen über den einen oder anderen Fall an und bediente sich dabei des Internets und der zahlreichen Fachbücher, die Treibel nach einem ausgetüftelten Schema fein säuberlich geordnet hatte.
Heute Abend wollte er sich mit dem besonderen Phänomen der Verbrecherpärchen befassen und einiges über ihr Vorgehen, die Auffälligkeiten beim Täterprofil und insbesondere die entscheidenden Fehler, die zur Festnahme der Paare geführt hatten, in Erfahrung bringen.
Treibel setzte sich an seinen Schreibtisch, wo der Kommissar bereits einige Bücher zum Studium bereitgelegt hatte.
Die meisten Fakten, auf die er stieß, waren ihm wohlvertraut, denn er hatte sie selbst in seinem Werk „Die kriminalistische Ermittlung" ausführlich behandelt. Etwa den bedingungslosen Zusammenhalt eines Ganovenpaares, der in der Regel dazu führte, dass es gemeinsam in die Falle tappte, aber auch gemeinsam in den Tod ging. Der männliche Part war bei Verbrecherpaaren der treibende Geist, in ihm steckte gewöhnlich das kriminelle Potenzial. Mit der Aufklärungsquote sah es bei dieser speziellen Täterkonstellation schlecht aus, weil die Partnerin an der Seite des Mannes in ihm den Beschützerinstinkt zu wecken und übermäßige Kräfte freizusetzen schien.

Der Kommissar erinnerte sich daran, dass Paul ihm heute vom legendären Gangsterpärchen Bonnie und Clyde erzählt hatte, dem berühmtesten Verbrechergespann der Kriminalgeschichte. Über diese skrupellosen Raubmörder hatte Paul im letzten Jahr ein Referat gehalten. Bonnie und Clyde hatten auf der Flucht durch mehrere US-Bundesstaaten fünfzehn Menschen bei Überfällen auf Tankstellen und Banken getötet.
Nach diesem historischen Ausflug hatte Paul dem Kommissar noch von Lola, der ordinären Person aus dem Treppenhaus, erzählt. Paul sei noch gestern Abend mit ihr baden gewesen und beide hätten einen Mordsspaß dabei gehabt.
Treibel hatte nicht vor, sich ins Privatleben seines Praktikanten einzumischen, und vermied es daher, einen wertenden Kommentar zu dieser Liebschaft, der sicherlich nicht allzu positiv ausgefallen wäre, abzugeben.

Der Kommissar erhob sich jetzt vom Schreibtisch, ging zum Bücherschrank und zog vom obersten Regal ein englischsprachiges Fachbuch hervor.
Treibel hatte sich erinnert, dass ein ihm gut bekannter Kollege aus Cambridge, eine international geschätzte Kapazität, ein Kapitel seines Buches dem Thema Verbrecherpaare gewidmet hatte.

Nach einer Dreiviertelstunde unterbrach Treibel sein Studium, legte ein Lesezeichen in das Buch und klappte es zu.
Dann ging er auf den kleinen Balkon, um etwas Luft zu schnappen.
Hier wandte der Kommissar, um die Sauerstoffaufnahme in den Körper zu optimieren, gewohnheitsmäßig eine alte japanische Atemtechnik an. Auf eine dreimalige tiefe Einatmung, bei der sich die Bauchdecke heben musste, ließ Treibel ein langsames Ausatmen mit offenem Mund folgen und zählte dabei gedanklich bis sieben. Diese Atemmethode hatte eine entspannende Wirkung auf den Körper und förderte einen gesunden Schlaf.
Treibels Gattin hatte früher diese Art von Übungen, denen sich ihr Mann täglich nach der Arbeit widmete und die er zu großer Perfektion gebracht hatte, immer nur als Spleen abgetan.

Treibel galt zwar als Koryphäe auf dem Gebiet der Kriminalistik, favorisierte aber das interdisziplinäre Denken. So befasste er sich - wenn ihm die Zeit blieb - mit Themen, die sonst in seinem Alltagsleben keinen Platz hatten.
In einem seiner wenigen Urlaube hatte sich der Kommissar sogar ans Surfen gewagt. Allerdings mit dem Ergebnis, dass das geliehene Brett, von dem er schon nach wenigen Sekunden gepurzelt war, von der Strömung abgetrieben und nie mehr gesichtet wurde.

Freunde hatte Treibel keine. Selbst die Mieter im Haus kannte er nur vom Grüßen. Treibels einzige Kontaktpersonen waren die Menschen an seiner Arbeitsstelle.
Freundschaften zu pflegen, kostete Zeit und davon hatte der Kommissar zu wenig.
Er fühlte sich aber keineswegs einsam, denn sein Leben war bis auf die Minute ausgefüllt und bestand aus einer Folge fortlaufender Tagespläne, die es einzuhalten galt.

Treibel hatte nun die japanische Atemübung beendet.
Das Klatschweib aus dem Hause gegenüber hatte ihn schon wieder von ihrem Fenster aus beobachtet und schoss mit grimmigen Blicken einen Hagel von Giftpfeilen auf ihn ab.
Doch aus dem Urteil anderer hatte sich der Kommissar noch nie etwas gemacht.
Gestärkt ging er zurück ins Wohnzimmer, schloss die Balkontür und fuhr mit seinen Studien fort.

Der EntfloheneKde žijí příběhy. Začni objevovat