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In den letzten drei Wochen war es trotz der umfangreichen Fahndung zu keinen - wie es in den Akten so schön hieß - ermittlungsrelevanten Ereignissen gekommen. Die Flüchtigen schienen sich regelrecht in Luft aufgelöst zu haben.
In solchen Situationen galt es abzuwarten, bis wieder Bewegung in den Fall kam. Geduld war bisweilen ein notwendiges Übel und gehörte zu den unverzichtbaren Eigenschaften eines jeden Kriminalbeamten.
Nach gängiger Auffassung, der Kommissar Treibel nur zustimmen konnte, verlief die Aufklärung eines Mordfalls optimal, wenn in den ersten 48 Stunden nach der Tat der entscheidende Hinweis kam. Ansonsten musste man sich in der Regel auf ein langwieriges Räuber-und-Gendarm-Spiel gefasst machen, wie es sich auch im aktuellen Fall abzeichnete.
Die letzten Tage hatte sich Treibel in alte Mordfälle vertieft, bei denen seine Kollegen bislang kein Ergebnis erzielt hatten, und war mithilfe der Akten in die Köpfe der Mörder vorgedrungen. Solche Cold-Case-Ermittlungen des Kommissars hatten schon öfter zum entscheidenden Hinweis geführt, und Treibel sah darin eine lehrreiche Übungsmethode für seinen Praktikanten.

Wie auch die übrigen neuen Mitbewohner musste sich Paul gestern Abend im Wohnheim einem bizarren Ritual unterziehen. Einer Art Wetttrinken mit dem Stockwerk-Ältesten: doch nicht mit Schnaps oder Bier, denn hierbei hätte Paul noch Chancen gehabt, sondern mit fadem Abführtee.
Daher war auch die ganze Nacht das Gemeinschaftsklo blockiert.
Als Paul heute früh übermüdet zur Arbeit aufbrach, unterbreiteten ihm seine Hausgenossen grinsend, dass nur die neuen Mitbewohner den Sennesblättertee in der Kanne gehabt hätten, der Stockwerk-Älteste hingegen blankes Wasser.
Mittlerweile hatte die Wirkung des Tees, von dem Paul immerhin zwölf Tassen hinuntergewürgt hatte, schon etwas nachgelassen, doch war er ständig damit beschäftigt, überall, wo er sich aufhielt, ein stilles Örtchen für den Ernstfall auszumachen.
Das würde nun während der anstehenden Fahrt auf der Autobahn zu einem erheblichen Problem werden.

Wir wählen eine wenig befahrene Nebenstrecke.
Zunächst läuft der Käfer wie geschmiert. Der kleine Flitzer krabbelt fleißig über Berg und Tal, macht seinem Namen alle Ehre.
Die Nummernschilder für den Wagen habe ich vergangene Nacht im Dorf in der Nähe des Hofs besorgt.
Ich bin froh, dass ich selbst am Steuer sitze. Denn Sally ist als ungestüme Fahrerin bekannt und vermutlich der einzige Mensch, der während der Fahrprüfung geblitzt wurde.
Sally ist wegen des Abschieds von der Bäuerin betrübt, die Stimmung im Wagen dementsprechend mies.
Ich versuche, Sally mit einem Schwank aus unserem Leben aufzumuntern.
Ich erzähle die Geschichte, was Sally und ich eines Nachts auf der Heimfahrt von einem Landjugendfest erlebt hatten.
Ich gebe zu, ich hatte wie alle auf dieser Veranstaltung zu viel gebechert und hätte mich nicht mehr ans Steuer setzen dürfen. Als dann die Bullen vor uns auftauchten, schmiss ich die Bierdose, die ich mir gerade aufgemacht hatte, ins Handschuhfach. Doch wie es eben kommen sollte, forderten die Kerle meine Papiere, die sich, wie mir plötzlich mit Schrecken bewusst wurde, genau in diesem Handschuhfach befanden. Sally hat sie dort - besudelt vom Bier - herausgeholt. Das war natürlich auch der Grund, weshalb ich blasen musste, wobei mir auch noch die dämliche Frage herausrutschte, ob ins rechte oder linke Röhrchen. Danach war mein Lappen für drei Monate weg.
Die Geschichte zeigt Wirkung, Sallys Miene hellt sich auf.

Der Oldtimer fährt sich super. Jetzt, am späten Nachmittag, haben wir schon 500 Kilometer zurückgelegt.
Vorhin sind wir an unserer Heimatstadt vorbeigekommen, was uns schwer zu schaffen machte.

Doch ich habe die Kiste zu früh gelobt, denn eine halbe Stunde später, auf einem einsamen Landweg, fängt sie an zu knattern. Zuerst halte ich die seltsamen Geräusche für eine vorübergehende Laune dieses Donnerwagens. Doch dann sehe ich im Rückspiegel den Rauch, der aus den Schlitzen der Heckklappe hervorqualmt. Die Kiste tuckert mehrmals eigenartig und es gelingt mir gerade noch, sie an den rechten Straßenrand zu steuern, ehe sie ganz und gar den Geist aufgibt.
Ich versuche, den Wagen wieder anzulassen, doch vergebens: die Karre macht keinen Ruck mehr.
Mir kommen ein paar üble Schimpfwörter über die Lippen, doch Sally findet, ich solle das Auto nicht „verfluchter Mistkäfer" nennen, denn immerhin habe der Wagen schon einige Jahre auf dem Buckel, sei älter als sie selbst.
Ich steige aus und öffne die Heckklappe, um den überhitzten Motor erst mal abkühlen zu lassen.
Dann mache ich mich daran, die Ursache für den erzwungenen Halt zu finden, was durch die ungewohnte Luftkühlung des Motors gar nicht so einfach ist.
Nach einigem Suchen entdecke ich am Motorblock einen kleinen undichten Schlauch. Der könnte der Übeltäter sein. Ich brauche was zum Abdichten oder am besten gleich ein neues Schläuchchen.

In der Ferne, hinter saftig grünen Weiden, auf denen fette Kühe grasen, hat Sally die Spitze eines Kirchturms entdeckt.
Dorthin werde ich mich aufmachen. Ich hoffe, dass es in diesem Nest eine Werkstatt gibt.
Aus der Sporttasche krame ich die Knarren. Eine für Sally, eine für mich.
Leider muss mein Schatz hier in der prallen Sonne auf mich warten. Doch es geht nicht anders, einer muss beim Wagen bleiben.
Sally will sich in der Zwischenzeit die Beine vertreten, vielleicht auch Siesta unter der schattigen Platane halten.

Der EntfloheneDonde viven las historias. Descúbrelo ahora