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Wir hetzen durch den Wald.
In der Ferne hören wir das Geräusch knallender Autotüren.
Wir wissen nicht, ob uns jemand folgt, doch wenn, werden sich die Jäger schwertun. Das dichte Gehölz ist wie geschaffen für uns, macht uns nahezu unsichtbar.
Weil die Bullen versuchen werden, den Wald zu umstellen, müssen wir so schnell wie möglich weg von hier.

Bereits einige Minuten später haben wir den Wald hinter uns gelassen.
Vorbei an einsamen Höfen und über Viehweiden kommen wir zu einer Straße. Endlich ein Hinweisschild, das uns den Weg Richtung Autobahn zeigt. Dorthin wollen wir.
Es geht erneut durch einen Wald.
Kurz darauf dröhnt uns der gewaltige Lärm der Autobahn entgegen. Ein Schild kündigt eine Raststätte in fünf Kilometer Entfernung an.
In diese Richtung setzen wir unseren Weg entlang der Autobahn, doch weit genug entfernt, um den Scheinwerfern vorbeirasender Autos zu entgehen, fort.
Die Sonne versinkt gerade hinter dem Horizont.

Als wir die Raststätte erreichen, ist es bereits finster. Doch der Rasthof trotzt der Dunkelheit mit seiner imposanten Beleuchtung.
Da er um diese Zeit fast menschenleer ist, macht es keine Probleme, sich auf dem Gelände inkognito zu bewegen.
Die beiden Knarren haben wir für den Ernstfall griffbereit in den Hosenbund gesteckt.
Wir betreten den Verkaufsraum, müssen den Proviant auffüllen.
Als Sally sich nach einer Flasche bückt, rutscht ihr die Knarre aus der Jeans und knallt auf den Boden. Verdammt!
Der junge Mann an der Kasse hat's gesehen, wird leichenblass. Er glaubt an einen Überfall, hebt zitternd die Arme und stammelt, ob wir das Geld wollten.
Die Situation jetzt noch zu retten, ist schwierig. Der Mann winselt bereits um sein Leben.
Wir hauen lieber ab.
Entweder müssen wir eine Kiste finden, die uns mitnimmt, oder zurück in den Wald.
Sally ist geknickt, glaubt, sie habe alles vermasselt.
Ich streiche ihr zärtlich über die Wange und muntere sie auf. So was könne passieren.

Auf dem LKW-Parkplatz ist um diese Zeit bereits tiefe Ruhe eingekehrt. Keine Menschenseele weit und breit.
Doch wir haben Glück. Ein Trucker mit schwarzer Baseballkappe verlässt gerade das Schnellrestaurant.
Sally kommt bei Menschen besser an und so lasse ich ihr den Vortritt zu fragen, ob der Trucker uns ein paar Kilometer mitnehmen könne. Wir seien die letzten Wochen durch halb Europa getrampt.
Der LKW-Fahrer ist anscheinend irritiert. Die Ausstattung und die Klamotten, die wir anhaben, passen nicht unbedingt zu Globetrottern.
Doch weil wir offenbar recht harmlos wirken, ist der Trucker einverstanden.
Er habe noch 120 Kilometer bis zur Firma. Bis dahin könnten wir mitfahren.

Vom Laster aus hat man einen guten Überblick.
Der Brummifahrer setzt den schweren Truck in Bewegung und steuert auf die Autobahn zu.
Der Kerl stellt sich als Fred vor, was der Auftakt zu einem langen Monolog ist. Freds Zunge scheint wie eine aufgezogene Spieluhr in Gang gekommen zu sein und die Worte nur noch herunterzuspulen.
Egal, seine mit Inbrunst vorgetragene Rede lockert die Stimmung und wir begleiten den Vortrag mit einem artigen „hm" oder „ja".
Besonders viele Geschichten handeln von einer Tante Martha, die - wie die ganze Familie seit drei Generationen - Fernfahrerin gewesen sei. Doch weil sie wegen Gefühlsstörungen in den Beinen öfters Gas- und Bremspedal verwechselt habe, habe sie kein gutes Ende gehabt. An einem trüben Herbsttag sei sie mit ihrem 20-Tonner von einer Brücke geknallt.

Das monotone Geräusch des Trucks und Freds Gutenachtgeschichten lullen Sally und mich allmählich in den Schlaf. Manchmal rattert es ein wenig, doch sonst ist alles friedlich.
Trotz aller Müdigkeit versuche ich, wach zu bleiben. Sally neben mir hat's nicht geschafft. Sie pennt.

Nach einer halben Stunde Fahrt teilt ein Brummi-Kollege über CB-Funk mit, dass die Bullen in zwei Kilometern eine Verkehrskontrolle durchführten.
Mein Puls schnellt in die Höhe. Wir fahren direkt in die Katastrophe.
Ich knuffe Sally in die Seite und flüstere ihr die Horrormeldung zu.
Dann bitte ich Fred, uns auf dem Standstreifen rauszulassen.
Doch Fred bedauert, dass das strengstens verboten sei. Außerdem sei dort vorne schon das blaue Flimmerlicht der Polizeiwagen zu sehen. Wenn er jetzt anhalte, werde ihm das den Lappen kosten.
Mir kommt für einen Moment der Gedanke, Fred mit vorgehaltener Knarre zu einem Stopp zu zwingen. Doch dafür ist es schon zu spät, weil ich bereits das Gesicht der Polizei-Tussi sehe, die die LKWs mit einer Kelle auf den Parkplatz leitet.
Ich schlinge fest die Hand um den Griff unserer Tasche und nehme mir vor, einen kühlen Kopf zu bewahren.
Fred bremst ab und biegt auf den Parkplatz.
Ein Bulle kontrolliert gerade den Laster vor uns.
Auf ein Zeichen hin reißt Sally die Tür des Wagens auf, noch ehe er zum Stehen kommt.
Mit Karacho stürmen wir hinaus. Weg vom Parkplatz, hinein in die finstere Nacht.
Die Bullen haben's geschnallt. Wir hören eine Polizistin schreien „Halt! Stehen bleiben!", während jemand einen hellen Lichtstrahl auf uns richtet.
Danke, unser Freund und Helfer, denn nun kann ich wenigstens sehen, wo Sally steckt. Auch erkenne ich links vor uns einen Wald.
Ich nehme Sally an der Hand und mit einem Affenzahn steuern wir drauf zu.
Die Bullen feuern einen Warnschuss ab.
Sally zeigt selbst in solchen Situationen Humor und meint, jetzt werde uns gleich ein Vogel auf den Kopf fallen.
Ich drehe mich um und erkenne, dass zwei Personen uns mit Lampen hinterherjagen.
Doch sie haben Pech. Der dichte Wald hat uns bereits geschluckt. Die kräftigen Stämme sind wie ein unerschütterliches Heer, das niemals zurückweicht.

Der EntfloheneWhere stories live. Discover now