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Schon früh am nächsten Morgen erhielt Kommissar Treibel einen Anruf von Paul, dass er sich eine Blasenentzündung eingefangen habe und nicht zum Dienst erscheinen könne. Auf Anraten des Zimmernachbarn habe sich Paul einen Kasten Weizenbier besorgt, weil dieses Getränk die Bakterien aus der Blase schwemmen solle.
Treibel riet seinem Praktikanten, diese Methode, von der der Kommissar noch nie etwas gehört hatte, nur äußerst zurückhaltend anzuwenden.
Während sich der Kommissar alleine an die Arbeit machte, verbrachte Paul einen geruhsamen Tag im Wohnheim, wo der Polizeistudent für die Zeit des Praktikums eine Bleibe gefunden hatte, und ging seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Spielen von Videogames, nach.

Da der Praktikant den Rat seines Chefs, sich mit dem Bierkonsum zurückzuhalten, in den Wind geschlagen hatte, schlief Paul bereits um acht Uhr abends ein, nachdem er neun Flaschen des süffigen Biers gezwitschert hatte.

Sally hat heute Geburtstag.
Auch die Bäuerin findet, das müsse man feiern und lässt alle anstehenden Arbeiten ausfallen.
Wir wollen Sally ein Ständchen singen, doch das Lied „Happy Birthday" kennt die Bäuerin nicht. Stattdessen tragen wir „Rosamunde" vor. Der Text passt ja gut zu Sally.
Zur Feier des Tages schlachtet unsere Gastgeberin ein Huhn und macht dazu Klöße aus selbst gefertigtem Teig.
Am Nachmittag wird's richtig gemütlich. Die Bäuerin hat eine verstaubte Spiele-Sammlung aus der Truhe gekramt. Ja, die guten alten Brettspiele. Da ich ständig am Verlieren bin, kommt's mir allmählich vor, als zögen mich die beiden Damen gewaltig über den Tisch.

Vor Sonnenuntergang wagen wir drei einen kleinen Ausflug in den Wald.
Zurück im behaglichen Stübchen lassen wir die alte Frau noch ein bisschen erzählen. Wir spüren, dass sie sich freut, jemanden zum Zuhören gefunden zu haben. Die letzten achtzehn Jahre hatte sie dafür niemanden.
Sie entschuldigt sich, dass sie uns mit der Flinte bedroht habe. Sie solle ungebetene Gäste abschrecken. Schiessen könne man damit nicht.

Am nächsten Vormittag geht die Arbeit leicht von der Hand. Ruckzuck sind Dutzende von Johannisbeersträuchern geleert. Auch die Bäuerin hilft mit.

Als wir am Nachmittag unsere reiche Beeren-Ausbeute in die Stube tragen, hören wir plötzlich in der Ferne ein Motorengeräusch.
Panisch stellen Sally und ich die Körbe ab. Wir müssen schleunigst ein Versteck suchen, irgendein Schlupfloch, in das wir uns verkriechen können.
Das Regenfass vor dem Haus? Zu klein. Die Hundehütte? Bedeutet den sicheren Tod. Doch die Bäuerin behält die Nerven und dirigiert uns in die Scheune, wo wir hinein in den Heuhaufen kriechen.
Dort ist es höllisch warm und überall pikt es an der Haut. Doch Hauptsache, wir sind von außen unsichtbar.
Das Motorengeräusch ist schon nah, der Wagen scheint gerade auf den Hof zu kommen.
Ich hoffe, die Bäuerin lässt ihren bissigen Köter von der Kette, wenn uns jemand entdeckt.
Sally hat meine Hand genommen und hält mit der andern das Amulett ihrer Mutter umschlossen.
Wir müssen jetzt ruhig sein, dürfen keinen Pieps von uns geben.
Von draußen ist das Geräusch knallender Autotüren zu hören.
Kurze Zeit später ein Stimmengewirr, das sich nähert.
Jetzt steht die Bäuerin mit zwei Männern hier im Heuschober. Einer der Fremden scheint hin- und herzulaufen und sich in der Scheune umzusehen. Draußen kläfft der Köter.
Plötzlich kribbelt es in meiner Nase. Einen Niesreiz zu unterdrücken ist der blanke Horror. Doch es gelingt mir.
Ich muss an die Mistgabel denken, die rechts an der Scheunenwand lehnt. Wenn uns die Typen entdecken, werde ich sie damit in Schach halten.

Minuten später entfernen sich die Schritte. Wir atmen auf.
Kurz darauf ist heftiges Türknallen zu hören und ein Wagen, der abzischt.
Die Bäuerin kommt zurück in die Scheune und ruft uns zu, dass wir rauskommen könnten, die Luft sei rein. Es habe sich um Polizisten gehandelt, die uns gesucht hätten. Die Bäuerin wolle von uns gar nicht wissen, was wir ausgefressen hätten. Über die Menschen bilde sie sich ihr eigenes Urteil.

Zum Abendbrot gibt es Erbsbrei, in den die Bäuerin viel Knoblauch geschnitten hat.
Wir reden heute beim Essen nicht viel und helfen der alten Frau danach beim Buttern. Dazu müssen wir den Rahm von der Milch schöpfen und ihn solange schlagen, bis sich das Fett zusammenklumpt.
Erst spät kommen wir ins Bett.

Der EntfloheneWhere stories live. Discover now