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Es ist schon tief in der Nacht und die Strecke ist bergig.
Es macht einen Höllenspaß, den Wagen aus den scharfen Kurven der Serpentine herauszuschaukeln und ihn gerade noch unter Kontrolle zu bringen.
Sally findet, ich solle meine Scherzchen nicht übertreiben, denn neben ihr gehe es einige hundert Meter in den Abgrund. Sie erzählt, dass sie sich vorgestern wieder unsere heiß geliebten Conan-Filme reingezogen habe. Das habe sie in den letzten Wochen öfter gemacht, weil Conan sie an mich erinnere.
Sie dreht sich zu mir herüber und streichelt meinen 58-Zentimeter-Bizeps, auf dem ihr Name in schwarzen Lettern eintätowiert ist.

Minuten später ist Sally auch schon eingenickt.
An einer Kreuzung biege ich intuitiv nach links.

Doch kurze Zeit später habe ich keinen Schimmer mehr, wo ich mich befinde. Habe mich total verfranst.
Der Weg mit seinen vielen Schlaglöchern kommt mir seltsam vor. Rechts vor mir liegt ein See, dessen Umriss einem Totenkopf gleicht. Das fahle Mondlicht hat sich wie ein Leichentuch über das Gewässer gelegt. Ein Käuzchen durchdringt mit seinem schauderlichen Ruf die Nacht. Dieser Totenvogel folgt uns schon die ganze Zeit. Am Himmel sind keine Sterne zu sehen. Vielleicht leuchten sie für Typen wie mich gar nicht mehr.
Ich fühle mich matt und müde, bin ausgelaugt und halte die Augen nur noch mit Willenskraft offen.
Der Wagen holpert.
Sally wacht auf.
Das war kein Schlagloch. Ich habe etwas, das wie ein Schatten aus der Dunkelheit kam, überfahren.
Ich bleibe stehen, um nachzusehen.
Die blutige Masse auf der Straße kann ich keiner mir bekannten Spezies zuordnen. Ich glaube Därme zu erkennen, die aus einem Stück Fleisch hervorquellen. Der Schädel ist zerschmettert.
Ich steige ins Auto. Die Fahrt geht weiter.

Auf dem schier endlosen Weg scheint es immer dunkler zu werden. Allmählich verengt sich die Spur. Vielleicht endet der Weg abrupt und wir stürzen in die Tiefe.

Obwohl ich nicht mehr damit gerechnet habe, dass es in dieser Gegend menschliches Leben gibt, taucht ganz unvermittelt ein Wegweiser auf, der die Loser, die sich bis hierher verirrt haben, nach rechts auf eine unbefestigte Straße locken will. „Herberge zum Höllenschlund" ist dort auf einem Holzschild eingebrannt. Das Symbol darunter, ein mit einer Gabel gekreuztes Messer, soll hoffentlich nur bedeuten, dass man in dieser Herberge auch was zu futtern bekommt.
Weil wir genau so ein abgelegenes Quartier suchen, folge ich der Tafel.
Höllenschlund, einladend klingt das nicht gerade. Nur ein Irrer kann sich diesen Namen ausgedacht haben.

Auf dem schlechten Weg kommen wir nur langsam voran. Ich hoffe, dass ich's mir nur einbilde, doch kommt es mir vor, als stiege die Temperatur im Wagen von Meter zu Meter.
„Nomen est omen", doch ich hoffe, dass diese Wahrheit nicht auf den Höllenschlund zutrifft.

Der EntfloheneWhere stories live. Discover now