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Nach dem Essen wird palavert, der Baron nennt es gepflegte Konversation.
Er erkundigt sich, wie es uns auf der langen Wanderung ergangen sei.
Ich sauge mir notgedrungen einige Lügenmärchen aus den Fingern.
Nach allgemeinem Staunen, besonders Sally zeigt sich überrascht, komme ich auf den Boden der Tatsachen zurück und teile nüchtern mit, dass wir uns gleich morgen in aller Frühe wieder auf die Socken machen wollten.
Die Baronin will uns einige ausrangierte Wandersachen mit auf die Reise geben, weil uns die Diebe so viel geraubt hätten.
Der Baron erzählt lustige Schwänke aus dem Leben und schildert, wie er seine Frau während des Studiums in Berlin erobert habe, wo sie Kunstgeschichte bei einem Herrn Brocarius studiert und sich in exzentrischen Künstlerkreisen bewegt habe. Es sei gar nicht so leicht gewesen, die Herzensdame von Berlin hierher aufs Land zu locken.
Über die Tatsache, dass ich den mir angebotenen Whisky ohne Zögern als Tennessee Whiskey erkenne, ist der Schlossherr erstaunt. Doch auf diesem Gebiet kann mir niemand das Wasser reichen.

Nach drei Stunden findet die Soiree -  ich hoffe nicht, dass die Gastgeber unser verstohlenes Gähnen bemerkt haben - ein Ende.
Vor dem Zubettgehen möchte uns die Baronin noch einen Blick in ihr Atelier werfen lassen.
Schon mehrmals habe sie ihre Ölgemälde auf Aufstellungen präsentiert.

Das Atelier entpuppt sich als ein riesiger, gut beleuchteter Raum im Obergeschoss. Auf einer Staffelei befindet sich ein unvollendetes Stillleben. Verschiedene Entwürfe liegen verstreut auf dem Boden. Bei den fertig gerahmten Bildern handelt es ich in erster Linie um Landschaftsmalerei, doch allesamt in dunklen Farben und düster gehalten.
Die Schlossherrin bittet Sally, noch kurz Modell zu stehen, denn selten habe die Baronin ein so vollkommenes Gesicht gesehen.
Ich weiß, Sally macht das nur ungern, doch um sich für die herzliche Gastfreundschaft zu revanchieren, willigt Sally ein.
Ich gehe schon mal schlafen.
Das Dienstmädchen wird gerufen, um mich zum Gästezimmer zu geleiten.

Ich sehe mich im Zimmer um. Wie alles hier im Schloss ist es bestens ausgestattet, blitzblank geschrubbt, warm und freundlich eingerichtet. Die Wandleuchten spenden ein angenehmes Licht.
Ich knalle mich aufs Bett, teste mit leichtem Auf- und Abwippen die Matratze und finde, dass man hier sehr bequem, geradezu wie auf Federn, liegt.
Noch während meiner gedanklichen Lobeshymne schlummere ich ein.

Um 1.24 Uhr, wie der Wecker auf dem Nachtkästchen anzeigt, wache ich auf.
Sally kommt gerade ins Zimmer und wundert sich, dass das Licht noch brennt.
Doch dieser Umstand lässt mich sehen, wie zauberhaft Sally geschminkt ist und nun selbst wie eine Adlige aussieht.
Sie erklärt, das Make-up habe sie der Baronin zu verdanken, worauf ich feststelle, dass die Bullen mit dem Porträt nun ein Phantombild von Sally zur Verfügung hätten und ein entzückendes dazu.
Sally genießt das Kompliment und zeigt mir den tellergroßen Bluterguss, der sich durch den Unfall mit dem Coupé über ihrer rechten Brust gebildet hat.
Sally erzählt, dass ihr die Schlossherrin ihr ganzes Leid geklagt habe, weswegen es so spät geworden sei. Sie fühle sich an diesem Ort seit Jahren wie eine Gefangene.

In der Nacht habe ich einen wunderbaren Traum. Ich trage ein edles Gewand mit Spitzenkragen und hochhackige Schnallenschuhe und befinde mich in einem funkelnden Spiegelsaal mit riesigen Kronleuchtern. Durch ein hohes Bogenfenster erkenne ich einen mit Tausenden von Kerzen erleuchteten Park. Ich gehe in die Mitte des Raums und setze mich auf einen Schemel, überzogen mit rotem Samt. Sally schreitet mit weitem Reifrock und hohem Kopfputz feierlich in den Saal. Plötzlich steht wie aus dem Nichts ein kunstvoll dekorierter Tisch im Raum: ein Festessen voller Delikatessen und schimmernden Kristallgläsern, gefüllt mit rotem Wein. Prächtig gekleidete Menschen, worunter ich auch den Hippie und die Bäuerin erkenne, strömen in den Saal und nehmen am Festschmaus teil.

Gegen halb sieben weckt Sally mich aus meinen süßen Träumen.
Vier Stunden Schlaf, ich spür's in meinen Knochen.
Sally hat unsere wenige Habseligkeiten bereits gepackt und wir trotten hinunter in den Hauptsaal.
Dort hat die Schlossherrin ein Frühstück mit Marmelade, Toast und Kaffee auftischen lassen.
Die Baronin meint schmunzelnd, dass sich ihr Mann entschuldigen lasse, weil er über starke Kopfschmerzen klage. Ihr Mann vertrage eben kaum Alkohol.
Die Schlossherrin überreicht uns einen Rucksack, in dem sie - wie gestern versprochen - einige Wanderutensilien und Proviant verstaut hat.
Wir frühstücken gemeinsam und verabschieden uns dann von unserer großherzigen Gönnerin.

Der EntfloheneOnde histórias criam vida. Descubra agora