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Am Nachmittag kommen hohe Wellen auf, das Meer wird stürmisch.
Sally verträgt den ruppigen Seegang nicht, ihr wird schlecht.
Der schicke Latino gibt ihr ein Pulver gegen die Übelkeit.
Beim Umtrunk, zu dem uns der Käpt'n am Abend eingeladen hat, muss Sally ihren Magen noch schonen. Der Smutje tischt Thunfischkoteletts mit Grilltomaten auf. Dazu gibt es eine große Auswahl an Getränken.
Der Käpt'n erzählt von der Hafenpolizei, die auf der Suche nach uns gewesen sei. Doch er habe die Kerle abwimmeln können. Gerade die Schiffe aus Südamerika hätten die Fahnder im Visier. Doch er sei sauber, habe noch nie Koks geschmuggelt. Schon mehrmals habe der Käpt'n die Erdkugel umrundet und sei jetzt froh, im Liniendienst tätig zu sein, immer hin- und herzupendeln zwischen Brasilien und Europa.
Mit steigendem Alkoholspiegel wird der Käpt'n sentimental  und klagt über sein wildes Seemannsleben. Deshalb wolle er sich irgendwo in Brasilien mit einer ordentlichen Frau an seiner Seite niederlassen, vielleicht sogar eine kleine Familie gründen.
Nachdem er beim Schnacken schon zweimal eingenickt und mit seinem Schädel auf den Tisch geknallt ist, verlassen wir die Kajüte und tasten uns vorsichtig in der Dunkelheit zu unserer Kammer.
Die wurde heute Nachmittag auf Betreiben des Latinos mit zwei alten Matratzen ausgestattet.

Kommissar Treibel hatte von der Hafenverwaltung eine Liste mit allen Schiffen, die in den letzten Tagen den Hafen verlassen hatten, einschließlich der jeweiligen Zielorte, ausdrucken lassen.
Um das Ganze bildlich darzustellen, markierte Treibel spätabends auf einer Weltkarte, die der Kommissar als Standardausrüstung im Kofferraum seines Wagens mit sich führte, die angelaufenen Zielhäfen und stellte resigniert fest, dass aufgrund der großen Menge an Häfen ein Weiterverfolgen der Spur unmöglich war.
Treibel nahm seine Thermoskanne aus der Aktentasche, goss sich den Rest des Kamillentees in eine Tasse und setzte sich mit einem Seufzer in den Polstersessel des Hotelzimmers.
Völlig unvermutet kam dem Kommissar der Gedanke, welch beklagenswerter Zustand es doch sei, dass die Menschen immer nur von Treibel wegliefen: beruflich die Täter, privat die Ehefrau samt Tochter. Und sogar auf der Arbeit bemerkte der Kommissar gelegentlich, dass seine Kollegen ihm aus dem Weg gingen, schnell zur Toilette oder durch die Bürotür flitzten, wenn Treibel im Anmarsch war.
Die logische Konsequenz musste eine Kehrwendung des Lebens um 180 Grad sein, denn nur ein solch radikaler Richtungswechsel konnte bewirken, dass die Menschen in Zukunft nicht mehr vor Treibel Reißaus nähmen, sondern - ganz im Gegenteil - von sich aus auf ihn zukämen.
Wie der Müllersohn aus Eichendorffs Novelle fühlte sich mittlerweile auch Treibel in der Lage, die Zelte abzubrechen und etwas völlig Neues zu wagen. Finanziell unabhängig war Treibel zweifellos, auch wenn die Scheidung ein großes Loch in seinen Sparstrumpf gerissen hatte. Und als Beamter hatte der Kommissar das Vorrecht, sich für längere Zeit unbezahlten Urlaub genehmigen und sich so ein Hintertürchen für die Rückkehr in den Beruf offenzulassen.
Treibels Blick fiel auf den gerahmten Spruch, der an der Wand des biederen Hotelzimmers hing: „Das Glück gehört dem Tüchtigen". Dem Kommissar war diese Weisheit des preußischen Feldmarschalls Moltke bekannt. Stets hatte sich Treibel daran gehalten. Doch obwohl bisher noch niemand gewagt hatte, die Tüchtigkeit des Kommissars in Zweifel zu ziehen, war Treibel das versprochene Glück - zumindest was die Familienverhältnisse anging - versagt geblieben.
Treibel ließ sein eigenes Leben auf der Suche nach Momenten des Glücks Revue passieren, doch fielen ihm nur wenige Situationen ein, in denen er überhaupt so etwas wie ein Glücksgefühl verspürt hatte.
Der Kommissar war sich nicht im Klaren, ob die Summe dieser Augenblicke überhaupt das wahre Glück ausmachten und entschloss sich, zunächst eine Definition des Begriffes Glück zu finden.
Nach einiger Überlegung kam der Kommissar zu dem Ergebnis, dass Glück als ein dauerhaftes Gefühl zu sehen war, das immer dann entstand, wenn ein Mensch mit seiner Lebenssituation einig war. Doch gerade diese Einigkeit mit dem Dasein war Treibel in den letzten Jahren abhandengekommen und ihn hatte zunehmend eine Ahnung beschlichen, dass irgendwas mit seinem Leben nicht stimmte. Dieses ungute Gefühl war selbst mit rationalen Argumenten nicht totzukriegen.
Der Kommissar spürte, dass seine festen Prinzipien und die Vormachtstellung des Verstands sein bisheriges Leben unterjocht und Treibel nun eine Schlinge um den Hals gelegt hatte, die sich allmählich zuzog.
Treibel überlegte, wie es ihm am besten gelingen könnte, sich aus dieser misslichen Lage zu befreien. Er musste an Rousseau denken, der mit seinem Aufruf, in den naturhaften Urzustand zurückzukehren, den Kommissar schon immer fasziniert hatte. Womöglich würde ein einfaches, naturgemäßes Leben den vorhin definierten Glückszustand herbeiführen.

Der Kommissar hatte den Kamillentee ausgetrunken und stellte die Tasse auf den Beistelltisch zurück.
Für den heutigen Tag erklärte Treibel alle Reflexionen für beendet.
Dann nahm er ein Büchlein zur Hand, wovon er mehrere stets in seiner Reisetasche mitführte, und tauchte ein in die Welt von E. T. A. Hoffmann. Las, wie ein Student aus bürgerlicher Welt in ein märchenhaftes Zauberreich, das versunkene Atlantis, kam, wo er endlich im Einklang mit sich selbst lebte.

Der EntfloheneWhere stories live. Discover now