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Sally und ich stehen vor dem Containerschiff. Dort oben ist es totenstill, weit und breit keine Menschenseele zu sehen.
Wir marschieren entlang dem Boot, an dem bereits der Rost nagt, auf und ab.
Ich brülle hoch zum Schiff, ob denn jemand an Bord sei.
Kurz darauf beugt sich ein Matrose über die Reling, zuckt mit den Schultern, weil er kein Wort versteht, und haut gleich wieder ab.

Schließlich taucht der Käpt'n doch noch auf und meint verschlafen, dass er zu uns runterkomme.
Dies tut er unbeholfen über eine Jakobsleiter und entschuldigt sich, als er vor uns steht, für seine Ungeschicklichkeit.
Das komme von der Beinprothese, auf die er dreimal feste klopft. Vor Jahren sei er mit dem Bein in eine Ankerwinde geraten, die habe es ihm abgequetscht.
Ich greife in meine Tasche und halte dem Käpt'n die vereinbarten 500 Mäuse hin.
Mit einem schäbigen Grinsen auf den Lippen starrt der Typ aufs Geld und erklärt: „Natürlich 500 pro Person."
Das hatte ich erwartet, doch einen Versuch war die Sache wert. Ich schiebe 500 Kröten nach.
Der Käpt'n scherzt, er wolle noch klarstellen, dass es Captain's Dinner oder ähnlichen Mist bei ihm an Bord nicht gebe. Denn das sei kein Traumschifff, sondern ein Albtraumschiff.
Dann reicht uns der Käpt'n die Hand und stellt sich als Julius Morgenthau vor, mit dem Ami-Politiker aus den 40er-Jahren weder verwandt noch verschwägert.

Wir krabbeln die Jakobsleiter hoch an Bord.
Auf verschlungenen Wegen führt uns der Käpt'n zu einer Rumpelkammer im Bauch des Schiffes.
Wir sollten erst mal in dieser Kammer bleiben, bis die Luft rein sei, erklärt uns der Käpt'n und macht sich zurück nach oben.
Wir sehen uns um, betrachten den vielen Krempel, der hier rumliegt: merkwürdige Apparate, Schiffstaue, Ölzeug.
Eine Ratte macht sich aus dem Staub. Sally liebt Ratten. Schon als Mädchen spielte sie nicht mit Puppen, sondern mit den Ratten auf dem Müllplatz. Sally behauptet, sie verstehe die Sprache der Ratten.
Kurz darauf setzt sich das Schiff in Fahrt. Endlich!

Nach geschätzten zehn Minuten - wir befinden uns auf der Elbe - hören wir draußen an der Bordwand Motorengeräusche.
Ich tippe auf ein Lotsenboot oder - falls wir Pech haben - die Wasserpolente.
Für diesen Fall denken wir uns schon mal ein Versteck aus.

Und tatsächlich, kurz darauf hören wir Schritte, die näher kommen.
Sally krabbelt in ein Holzfass. Ich mache - wie vorher abgesprochen - den Deckel drauf.
Dann schleiche ich in eine andere Ecke des Raums, wo ich mich hinter dem ganzen Plunder verkrieche und eine Plane über mich breite.
Personen, vermutlich drei Mann, kommen die knarrende Treppe herunter.
Ich erkenne die vertraute Stimme des Käpt'ns, der fest beteuert, blinde Passagiere an Bord zu haben. Dann hält er einen Moment inne und fährt lachend fort, dass es auf diesem Schiff von blinden Passagieren nur so wimmle. In jeden Container habe er einen gesteckt. Wenn Herr Kommissar Treibel es wolle, könne er gerne in allen 5000 Containern nachsehen.
Eine Person scheint jetzt etwas von dem Krimskrams beiseitezuräumen, was dazu führt, dass das Gerümpel, das zu einem Haufen getürmt war, mit lautem Poltern in sich zusammenstürzt.
Ich denke mal, die Schnüffler werden nun die Finger von den Sachen lassen.

Sekunden später höre ich die Personen die Treppe wieder hochgehen.
Vorsichtshalber verharren wir noch kurze Zeit in unserem Versteck, bis Sally plötzlich den Deckel ihres Fasses aufstößt und nach Luft schnappt.
Ich krieche vorsichtig aus meinem Unterschlupf.
Sally lächelt und erzählt, dass es da in dem Fass ganz schön eng sei und ekelhaft nach Hering stinke. Angewidert rümpft sie die Nase.

Etwa drei Stunden später kommt ein schicker Latino in blauer Marineuniform die Holztreppe herunter.
Mit einer Handbewegung und Worten in fremder Sprache gibt uns der Don Juan zu verstehen, dass wir mit ihm an Bord kommen sollen.

Dort können wir uns endlich die Beine vertreten.
Die Crew, in der Mehrzahl Asiaten, beäugt uns misstrauisch und scheint ihr spezielles Augenmerk auf Sally zu richten.
Unangenehm fällt mir ein indianischer Macho auf, der mit seiner eiskalten Miene und der gestählten Muskulatur, wie ich sie selten an einem menschlichen Wesen gesehen habe, fast unheimlich wirkt.
Sally fühlt sich bestens. Sie findet es herrlich, übers Meer zu schippern und sich dabei den Wind um die Nase wehen zu lassen.

Der EntfloheneWhere stories live. Discover now