Kapitel 16 - Kira

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Die Reise ist unheimlich langweilig. Wir haben schnell das Schwarze Meer durchquert. Genauso schnell waren wir durch den Bosporus, das Marmarameer und die Dardanellen. Aber die Reise durch das Mittelmeer zog sich unendlich hin. Ich musste mich weit von den anderen entfernt halten, da sich hier wenige Möglichkeiten zum Verstecken boten. Trotz der üppigen, bunten Pflanzenwelt um mich herum. Zwei Mal hat Lethe, die sich immer mal wieder ziemlich weit von der Gruppe entfernt, mich fast erwischt. Während die anderen in der Stadt Halt gemacht haben, musste ich um sie herum schwimmen und sehen, dass ich die Gruppe wieder aufgreife, wenn sie die Stadt verlassen.

Komischerweise sind sie nun zu siebt unterwegs. Ein junger Mann mit kurzen, rotblonden Haaren und stämmiger Figur, begleitet die Gruppe nun. Überrascht erkenne ich, dass es sich um Helios Peleus handelt. Der Kronprinz. Aber warum begleitet er die anderen? Die Frage kann ich mir nicht beantworten und so folge ich den anderen einfach.

Am vierten Morgen haben wir die Straße von Gibraltar erreicht, von der aus es in den atlantischen Ozean geht. Hier kann ich wieder dichter an der Gruppe bleiben. Dabei fällt mir auf, dass vor allem Toni die Schultern hängen lässt. Wo sie anfangs noch durch das Meer gesaust ist und gar nicht genug von sich als Meerfrau bekommen konnte, ist sie jetzt still und in sich gekehrt. Das offene Lachen und die gute Laune sind verschwunden. Sie sieht aus, als würde sie eine Tonnenlast mit sich herumschleppen, was ja in gewisser Weise stimmt. Und Helios ist immer in ihrer Nähe. Wenn er sie anschaut leuchten seine Augen. Doch Toni bemerkt das gar nicht. Sie scheint einfach nur Trübsal zu blasen. Ob ihr endlich bewusst geworden ist, was sie angerichtet hat? Doch irgendwie vermisse ich auch ihre offene Art auch. Es gab einige Situationen, in denen ich sogar mit ihr lachen konnte. Zum Beispiel als sie Silas im Wettschwimmen geschlagen hat. Nachdem sie gegen Lope verloren hatte, war Silas sich allzu sicher und das ist ihm zum Verhängnis geworden. Er sah aus als hätte er ein paar saure Muscheln verschluckt, während sie sich gefreut hat wie ein kleines Kind. Und Kilian hat sie angesehen, als hätte er nie etwas Schöneres gesehen. Sein Lächeln war echt und das bekommt man nun wirklich unglaublich selten zu sehen.

Während wir durch den Nordatlantischen Ozean schwimmen, macht die Gruppe ungewöhnlich oft halt. Sogar in Thale, einer weiteren Stadt kehren sie ein, obwohl dies ein Umweg bedeutet. Da ich die Gespräche nicht verstehen kann, weiß ich nicht was in der Gruppe vor sich geht. Wir verlieren einen ganzen Tag. Hätten sie nicht in Thale Halt gemacht, sondern den direkten Weg genommen, wären wir schon viel weiter. Bestimmt ist Toni Schuld. Sie ist eben nur halbe Atlanterin und nicht gut genug für so eine anstrengende Reise. Sie ist halt nicht die Richtige. Doch eine leise Stimme in meinem Kopf widerspricht mir. Ich habe Toni nun einige Tage beobachten können und sie ist nicht das Püppchen für das ich sie gehalten habe. Sie scheint Atlantis wirklich retten zu wollen.

»Natürlich will sie das«, sagt eine andere Stimme in meinem Kopf. »Weil sie danach auf nimmer wiedersehen verschwinden kann.«

Seufzend schüttele ich den Kopf. Es sollte mich freuen, dass Toni uns dann endlich in Ruhe lässt. Aber warum empfinde ich es dann als Verrat? Warum macht es mich traurig, dass sie uns verlassen will? Die Antwort darauf will ich lieber nicht hören. Die viel wichtigere Frage ist doch auch: Wie wird es Kilian dann gehen? Während wir so dahin schwimmen, kann ich ihn immer wieder beobachten. Er schaut viel zu oft zu seiner Frau. Und seine Blicke sind verwirrend. Manchmal sieht er sie vorwurfsvoll an, manchmal als wäre sie das schönste was er in seinem ganzen Leben gesehen hat und manchmal schaut er sie einfach nur traurig an.

Zwischendurch wirft er Helios Blicke zu, bei denen dieser eigentlich sofort tot umfallen müsste. Und ich kann mich einfach nicht gegen den Gedanken wehren, dass er eifersüchtig ist. Seufzend schüttele ich den Kopf. Denn mir wird bewusst, dass ich nicht das Recht habe zu entscheiden, wer für Kilian die Richtige ist und wer nicht. Das ist ganz allein seine Entscheidung. Denn es ist sein Leben und er muss glücklich sein und nicht ich. Als mir diese Erkenntnis kommt und mich bis in die kleinste Zelle durchdringt, laufen mir die Tränen über die Wangen. Denn mein Leben wird sich grundlegend verändern. Ich fühle mich nicht mehr für Kilians Glück verantwortlich. Auch wenn es mir schwer fällt, weiß ich doch, dass sein Glück allein in Poseidons Händen liegt.

Es sorgt auch dafür, dass ich Toni mit ganz anderen Augen betrachten kann. All die Situationen in denen ich ihr begegnet bin, sehe ich nun aus einem anderen Blickwinkel. Ich sehe eine starke, junge Frau, die nicht aufgibt und sich auch den Widrigsten Bedingungen stellt. Irgendwie sind die Tränen befreiend, sie entbinden mich von jeglichen Pflichten Kilian gegenüber. Ja ich bin seine Zwillingsschwester und ja wir sind immer füreinander da gewesen, doch meine Fürsorge ihm gegenüber geht einfach zu weit. Ich muss ihn los lassen. Und ich kann ihn auch endlich los lassen. Das wiederum gibt mir die Freiheit zu entscheiden, ob ich umkehren möchte. Aber als ich mich umdrehe um den Weg zurück zu nehmen, spüre ich, dass mein Weg mich in die andere Richtung zieht. Hinter den anderen her, als würde ich noch gebraucht werden. Als wenn mein Herz mir sagen will, dass meine Bestimmung nicht in Atlantis liegt.

Also folge ich der Gruppe weiter. Doch diesmal aus ganz anderen Beweggründen. Ich will helfen. Ich will da sein, wenn ich gebraucht werde und solange werde ich die Einsamkeit in Kauf nehmen und allein hinter den anderen her schwimmen.

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