Prolog - Martha

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Es sind sieben Monate vergangen. Sieben Monate, in denen ich gelernt habe, Königin zu sein. Sieben Monate, in denen ich jeden Tag neben Titus aufgewacht bin und mich wie die glücklichste Frau der Welt gefühlt habe. Die Zeit, in der wir geheiratet haben und in der ich schwanger geworden bin. Und die Zeit, in der jeder aus meiner Familie – Henna und mein Vater, Titus und ich, vor allem aber Esther – unter dem Damoklesschwert gelitten haben, welches all die Monate über unseren Köpfen zu schweben schien: Dem Prozess. Wie sollen wir als Königspaar gerecht sein, wenn das gefällte Urteil sich gegen unsere Geschwister richtet?

Titus leidet darunter, dass er bei Eventus keinerlei Zeichen von Reue entdeckt. Sein Wunsch wäre es, ihm vergeben zu können. Ich leide darunter, dass Esther bereut. Ich werde meine Schwester in die Verbannung schicken und das in dem Wissen, dass ihre Erinnerungen sie verfolgen. Titus legt seinen Arm um mich, als ich den Blick hebe und Esther ansehe. Sie steht ein paar Schritte entfernt, flankiert von Wachen. Neben ihr Eventus. Meine Erinnerung schweift zurück an den Tag, an dem Titus im Amphitheater vor aller Augen zusammengesunken am Boden lag. Wie die Menge ihn begafft hat und sich an der scheinbaren Gerechtigkeit seines Todes freuen konnte. Dieses Urteil, was wir heute verlesen werden, ist gerecht. Es führt nicht in den Tod. Es findet nicht vor einer riesigen Menschenmenge statt, wie damals. Und dennoch kann ich über diese Gerechtigkeit nicht glücklich sein.

Das Kind in meinem Bauch bewegt sich, als würde es spüren, dass etwas nicht stimmt. Ich lege meine Hand auf die Babykugel. Sie sagt mir, dass alles gut wird. Dass das Leben weitergeht. Dass ich auf schönere Tage hoffen darf.

Titus entfaltet Eventus' Urteil und beginnt, mit kraftvoller Stimme zu lesen: „Im Namen von Calia und all seinen Bewohnern verkünde ich, König Titus von Calia, das Urteil, welches unter Einhaltung aller rechtlichen Mittel über Eventus Prinz von Calia gefällt wurde durch Oberrichter Ernest Dahson:

Ich verbanne Dich, Eventus Prinz von Calia, aus Deinem Heimatreich. In Cortex wirst du leben und bist dem dortigen Recht unterworfen. Ich als Dein König verzichte auf jeglichen Einfluss, über Dich zu regieren oder zu richten. Des Weiteren enthebe ich Dich Deines Amtes, Deines Titels und Deines Namens. Als Eventus wirst Du verbannt und als Eventus wirst Du leben in Deiner neuen Heimat. Dieses Urteil ist rechtskräftig."

Eventus wird weggeführt. Hoch erhobenen Hauptes stolziert er zu seiner Kutsche, die ihn außer Landes bringen wird. Ich ahne, dass es für ihn keine gute Zukunft geben wird. Ohne Titel wird er entweder selbst sein Leben beenden, oder der scharfen Justiz im Nachbarreich Cortex zum Opfer fallen. Titus weiß das. Er hatte Zeit, sich damit abzufinden. Und ich glaube, dass er es gefasst aufnehmen wird, sollten wir in Tagen, Wochen oder Monaten schlechte Nachrichten über seinen Bruder erhalten.

Anders bei Esther. Wir als Königspaar haben lange dafür gekämpft, dass ihr Chancen eingeräumt werden, sich eine Zukunft aufzubauen. Persönlich haben wir mit dem Königshaus in Arex verhandelt, dass die ständige Überwachung, der Verbannte ausgesetzt werden, bei ihr nicht durchgeführt wird. Ich weiß, dass Esther ihre Fehler nicht wiederholen wird. Und ich weiß, dass sie alles für einen Neuanfang, eine Zukunft geben wird.

Titus reicht mir das Urteil über meine Schwester. Ich habe darauf bestanden, es selbst zu verlesen, auch wenn aus meiner Familie die Bedenken kamen, ich könne mich emotional überlasten. Aber das ist sie mir wert.

Ich falte den Bogen Papier auseinander und beginne mit zittriger Stimme: „Im Namen von Calia und all seinen Bewohnern verkünde ich, Königin Martha von Calia, das Urteil, welches unter Einhaltung aller rechtlichen Mittel über Esther Griffel gefällt wurde durch Oberrichter Ernest Dahson:

Ich verbanne Dich, Esther Griffel, aus Deinem Heimatreich. In Arex wirst du leben und bist dem dortigen Recht unterworfen. Titus König von Calia verzichtet auf jeglichen Einfluss, über Dich zu regieren oder zu richten."

Ich sehe, wie meine älteste Schwester, die sonst so starke Frau, krampfhaft schluckt. Meine Augen brennen und ich muss tief durchatmen, ehe ich mit der Verlesung fortfahren kann. Niemals habe ich gedacht, dass es so schwer werden könnte.

„Des Weiteren enthebe ich Dich Deines Amtes. Deine Familie verzichtet darauf, Dir Deinen Namen zu entziehen." Tatsächlich ist es für keinen von uns je in Frage gekommen, Esther ohne einen Nachnamen in ein neues Leben zu schicken. Und es stand nie zur Debatte, die Zugehörigkeit zu unserer Familie zu leugnen. „Als Esther Griffel wirst Du verbannt und als Esther Griffel wirst Du leben in Deiner neuen Heimat." Ich lasse das Urteil sinken und blicke meiner Schwester ins Gesicht. Ich möchte, dass sie den nächsten Satz, unser womöglich größtes Zugeständnis an sie, vollständig erfasst. Ich möchte, dass sie begreift, was es bedeutet.

Verwirrt durch die lange Redepause blickt Esther auf. Ich räuspere mich. „In Übereinstimmung mit dem König", beginne ich, „und dem königlichen Rat wird Dir die Erlaubnis eingeräumt, unter dem Schutz eines Patrons oder Dienstherrn nach Calia zurückzukehren. Dieses Urteil ist rechtskräftig."

Esther blickt mich mit großen Augen an. Ich sehe, wie viel es ihr bedeutet, aber ich merke auch, dass sie die eigentliche Botschaft dieser Erlaubnis noch nicht versteht: Dass wir ihr verziehen haben.


Die GouvernanteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt