Kapitel 33 - Esther

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Es ist eine reichliche Woche her, dass ich einen Boten ausfindig gemacht und nach Calia geschickt habe. Seitdem ist Ruhe eingekehrt. Annalies hat sich von dem Besuch ihrer Mutter erholt, mein Handgelenk ist ohne Folgen geheilt und alles geht seinen gewohnten Gang.
Doch im Gegensatz zu Annalies und Orland kann ich mich nicht entspannen. Meine Gedanken sind bei dem Brief. Ob er schon bei Martha ist. Ob sie ihn überhaupt lesen wird, wenn sie meinen Namen als Absender sieht. Ob sie überhaupt in Erwägung zieht, meinem Wunsch zu entsprechen.
Auch heute Morgen sind meine Gedanken ganz woanders. Ich verpasse es, über Orlands Witz zu lachen und muss mich wieder einmal für meine Abwesenheit entschuldigen.
Orland sieht mich besorgt an. „Ich hoffe, es ist alles in Ordnung mit Ihnen, Esther?" Ich nicke und überlege, welche Ausrede ich vorbringen kann, doch ich werde glücklicherweise erlöst, als Ernst den Speisesaal betritt, den Kopf des Tisches ansteuert und sich ein wenig zu Orland hinabbeugt.
„Durchlaucht, entschuldigen Sie die Störung, ein Bote ist soeben mit einer Mitteilung für Sie eingetroffen." Mein Herzschlag beschleunigt sich und ich lege aufgeregt meinen Löffel beiseite. Auch Annalies spitzt die Ohren.
Orland runzelt die Stirn. „Und warum bringen Sie mir die Mitteilung nicht, wie Sie es sonst zu tun pflegen, Ernst?" „Der Bote besteht darauf, sie persönlich zu übergeben."
Orland lehnt sich in seinem Stuhl zurück. „Sieht er seriös aus?" Ernst nickt eifrig. „Äußerst seriös. Ich hätte ihn wohl zunächst für ein Mitglied der feinen Gesellschaft gehalten, doch er war so aufmerksam, jedes Missverständnis auszuräumen."
Ich muss mir ein Lächeln verkneifen und meine Gewissheit wächst mit jeder Sekunde, dass es sich nur um einen Palastboten handeln kann. Offenbar hat Martha einen der ranghöchsten Boten des Landes geschickt, jene, die in ihrer blau-goldenen Uniform mächtig Aufsehen erregen.
„Schicken Sie ihn herein", fordert Orland Ernst auf. Auch er scheint inzwischen neugierig geworden zu sein. Der Butler kommt seinem Wunsch sofort nach und ich bin froh und überwältigt zu sehen, dass ich mich nicht getäuscht habe.
Annalies reißt die Augen auf angesichts des groß gewachsenen Mannes in der Calia-Uniform, der schnellen Schrittes den Raum betritt. Und auch Orlands Augen weiten sich ein wenig.
Kurz schweift der Blick des Boten zu mir und ich sehe ein Erkennen in seinem Blick aufblitzen, doch er ist professionell genug, um sich sonst nichts anmerken zu lassen.
Vor Orland verneigt er sich pflichtbewusst. „Durchlaucht, ich bin mit der Aufgabe betraut worden, Ihnen ein Schreiben von Martha Königin von Calia zu überbringen." Er greift in die bestickte Ledertasche, die er bei sich trägt, und zieht einen Brief hervor. Das Papier ist edel, mit einem Goldrahmen versehen und im Siegel prangt das Wappen Calias.
Orland nimmt das Schreiben ehrfürchtig entgegen und lässt sich von Ernst Feder und Tinte bringen, um dem Boten den Erhalt der Mitteilung zu unterschreiben. Dieser verlässt mit einer weiteren Verbeugung, aber ohne einen weiteren Kommentar oder Blick in meine Richtung, den Raum.
Annalies beginnt, aufgeregt auf ihrem Stuhl herum zu zappeln. „Onkel Orland, mach endlich auf! Kannst du dir vorstellen, dass eine Königin diesen Brief in der Hand hatte? Woher weiß sie überhaupt, wo wir wohnen?" Orland zuckt mit den Schultern. „Ich stelle mir die Frage, woher sie weiß, dass ich existiere."
Langsam bricht er das Siegel, entfaltet die Nachricht und überfliegt das Geschriebene. Annalies und ich studieren genau sein Gesicht, um aus seinen Reaktionen schlau zu werden.
Plötzlich richtet er seine Augen ruckartig auf mich. „Sie hätten mich einweihen können, Esther." Ich lächele unsicher. „Ich habe nicht gewusst, ob es funktioniert. Was steht denn in dem Brief?"
Orland reicht das Schreiben an mich weiter und nun spüre ich seinen und Annalies' Blick auf mir. Ich konzentriere mich auf die Buchstaben und bin froh, dass ich ohne große Probleme den Inhalt des Briefes erfassen kann.

An den gnädigsten Baron Orland von Mailinger.
Durchlaucht,
es ist mir eine Freude und ein Privileg, Ihnen hiermit offiziell die Einladung auszusprechen, gemeinsam mit Ihrer Nichte Baroness Annalies an der Feier zur Taufe meiner erstgeborenen Tochter, Marlene Prinzessin von Calia teilzunehmen. Der große Ball findet am zweiten Samstag im März statt und ich würde Sie gerne empfangen. Diese Einladung spreche ich ausdrücklich auch im Namen meines Ehemanns Titus König von Calia aus.
Bitte grüßen Sie herzlich Ihre Gouvernante Esther. Ich habe mich so gefreut, von ihr zu hören!
Mit den freundlichsten Grüßen,
Martha Königin von Calia

Die GouvernanteWhere stories live. Discover now