Kapitel 3 - Orland

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Edwin Karden überfliegt den Pachtvertrag. Er gehört zu den wichtigeren Leuten in meiner Baronie und ist als Kaufmann, gemessen an der Region des Landes und den Menschen, die hier leben, sehr wohlhabend. Ohne Zweifel profitiere ich davon, dass er sich vor einigen Jahren hier niedergelassen hat und ich schätze ihn als Pächter. Jedoch bin mir nicht immer sicher, was ich von ihm als Mensch halten soll.

„Die Konditionen haben sich nicht verändert, wie ich sehe", brummt er über dem Papier. Er scheint etwas unwillig und das kann ich mir absolut nicht erklären. Andere Eigentümer ändern die Konditionen, sobald ein Vertrag ausläuft, weil sie wissen, dass ihre Untergeben im Grunde auf das bewirtschaftete Land oder gemietete Haus angewiesen sind.

„Herr Karden", beginne ich, „Sie wissen, dass Sie ein Pächter zu sehr guten Bedingungen sind. Gemessen an Ihrem Einkommen könnte ich weit mehr verlangen, aber ich schätze Sie und das möchte ich Ihnen zeigen. Sollte sich an Ihrer finanziellen Situation etwas ändern, bin ich jederzeit bereit, zu verhandeln, aber ich kenne die Zahlen und somit weiß ich, dass es für Ihren Unwillen keinen Grund gibt." Mein Gegenüber runzelt die Stirn und richtet sich in seiner Sitzposition auf. „Durchlaucht, Ihr Angebot ist fair, das will ich absolut nicht bestreiten. Aber ich hätte gehofft, Sie würden die veränderten Umstände in Ihrer Baronie berücksichtigen."

Ich schüttele den Kopf. „Ich fürchte, ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen." Edwin Karden verschränkt die Arme vor der Brust. „Darf ich vollkommen aufrichtig mit Ihnen sein, Durchlaucht?" Ich seufze innerlich. Wie viel Zeit könnte ich sparen, wenn die Menschen einfach sofort zum Punkt kommen würden. „Ich bitte darum."

Der Kaufmann räuspert sich. „Mit Verlaub, ich glaube, Sie haben keine Ahnung, welche Folgen der Aufenthalt Ihrer Nichte in Ihrem Haushalt für den Ruf dieser Gegend und die Geschäfte Ihrer Pächter hat. Und das sage ich Ihnen nur, weil ich Ihnen wohlgesinnt bin. Sie sollten sich darauf vorbereiten, dass viele Menschen hier diesen moralischen Konflikt nicht so leicht ertragen können wie ich. Ihr Angebot ist fair. Aber es grenzt an eine Zumutung, diesen Vertrag mit einem Mann einzugehen, der Menschen in seinem Haus beherbergt, denen ich nicht einmal in die Augen sehen könnte."

Erbost springe ich auf. „Herr Karden, Sie sind hier unter meinem Dach und erwarten von mir eine Pacht zu guten Konditionen. Und da wagen Sie es, sich so beleidigend über meine Nichte zu äußern! Was fällt Ihnen eigentlich ein?! Ich habe Annalies als mein Mündel anerkannt und damit steht sie ranglich über Ihnen! Und ich erwarte, dass Sie sich, solange Sie auf meinem Grund und Boden leben, ihr gegenüber auch so verhalten!"

Mein Pächter greift seelenruhig nach seiner Feder und setzt seine Unterschrift unter den Pachtvertrag. „Es ehrt Sie sicherlich, dass Sie die frevelhafte Herkunft dieses Mädchens außer Acht lassen können. Aber mir gelingt das nicht. Den meisten von uns gelingt es nicht. Wenn Sie Ihrer Nichte einen Gefallen tun wollen, dann ersparen Sie es ihr, dieses Leben, zu dem sie nicht aufleben kann, vor unseren Augen führen zu müssen. Und Sie ersparen uns die Schande, Teil ihrer Nachbarschaft zu sein." Er erhebt sich nonchalant. „Ich verabschiede mich. Auf bald."

Ohne eine Erwiderung abzuwarten, verlässt er mein Arbeitszimmer. Ich sacke auf meinen Stuhl zurück. Innerlich koche ich. Ein Schluck von dem kalt gewordenen Tee auf meinem Schreibtisch kann mich auch nicht besänftigen. Ich raufe mir die Haare. So hatte ich mir das nicht vorgestellt.

Annalies ist den dritten Tag bei mir. Gestern war ich mit ihr in Grara, um ihr die Gegend zu zeigen. Und ich habe die Verachtung gespürt. Geflüsterte Beleidigungen, die sich niemand laut auszusprechen traut, weil ich dabei bin. Und doch hängen sie in der Luft, jede wie eine Ohrfeige, schon für mich. Meine Nichte jedoch reagiert gar nicht darauf. Sie schweigt und wird unter den Blicken der Menschen immer kleiner. Zum Abendessen hatte sie auch keinen Ton von sich gegeben. Trotz Seraphinas Abwesenheit und trotz Kasimirs Bemühungen, sie mit Humor aus der Reserve zu locken. Und ich weiß nicht, was ich tun kann, um diese Situation zu ändern. Mir ist klar, dass ich meine Arbeit für einen Augenblick sein lassen und mit ihr reden sollte, aber ich weiß beim besten Willen nicht, was und wie.

Ein Klopfen am Türrahmen lässt mich aufblicken. „Ich dachte immer, bei einer Pachtverlängerung könne nicht viel schieflaufen", bemerkt Kasimir, aber es fehlt dieser Hauch an Ironie, der sonst in seinen Worten mitschwingt. Ich massiere mir die Schläfen, um den dumpfen Schmerz hinter meiner Stirn zu vertreiben. „Rein geschäftlich gibt es nichts zu beanstanden", kläre ich ihn auf. „Aber meine Pächter scheinen sich meine privaten Angelegenheiten sehr zu Herzen zu nehmen." Ich stoße halb kraftlos, halb verzweifelt die Luft aus. „Kasimir, ich weiß einfach nicht weiter. Ich kenne Annalies ja nicht einmal sonderlich gut, aber ich bin für sie verantwortlich. Und meine Verantwortung nehme ich stets nach bestem Wissen und Gewissen wahr. "

Mein Bruder tritt nun endgültig in den Raum hinein. „Orland, ich habe nachgedacht. Vielleicht sollte ich Annalies doch zu Vivien und mir nehmen. Unsere Baronie ist größer, aber vielleicht habe ich einen stärkeren Einfluss auf die Menschen." Ich schüttele vehement den Kopf. „Ich weiß es zu schätzen, dass du mir das Problem abnehmen willst. Aber es hat nicht viel Sinn. Unsere Nichte käme vom Hades in den Tartarus. Und darüber hinaus bin ich ihr Vormund. Du kannst mir meine Aufgabe nicht mehr erleichtern. Es tut mir nur so leid für sie. Und ich befürchte, dass ich nicht der Onkel bin, den sie gebrauchen kann." Kasimir lässt sich auf dem Stuhl nieder, auf dem eben noch Edwin Karden saß.

„Hör zu, Orland, sie ist nicht mal eine Woche hier bisher. Und ich möchte nicht, dass du alle Probleme in dich hineinfrisst und versuchst, sie alleine auszuknobeln, wie du es sonst zu tun pflegst. Ich habe dir meine Hilfe versprochen und meine Versprechen halte ich."

Er beugt sich leicht vor, die Ellbogen auf den Knien abgestützt. „Ich glaube, ich habe die richtige Gouvernante gefunden." Ich runzele die Stirn. „Ich wusste nicht, dass du überhaupt angefangen hast zu suchen." Ein Lächeln tritt auf sein Gesicht. Es ist dieses Lächeln, das er immer zur Schau trägt, wenn er äußerst zufrieden mit sich ist.

„Sagen wir, sie ist mir über den Weg gelaufen. Einwandfreie Referenzen, ein gefestigter Charakter, kurz, sie ist eine wirklich vernünftige Person. Und ich glaube, sie passt gut in deinen Haushalt." Was auch immer er damit meint. Ich vertraue Kasimir, und doch bin ich mir nicht sicher, ob ich wirklich schon eine Gouvernante im Haus haben will.

„Danke. Ich weiß deine Mühe zu schätzen. Aber ich fühle mich unwohl damit, jemanden für Annalies anzustellen, wenn sie so wenig geachtet und ihre Position ungefestigt ist. Annalies braucht vorerst viel Geduld und Gouvernanten sind einfach nicht die Personen für eine fürsorgliche Zuwendung." Kasimir rollt mit den Augen. „Du nutzt sie als Argument, um dein eigenes Unwohlsein zu verteidigen. Gib meiner Kandidatin eine Chance. Ich habe sie eingeladen, sich morgen vorzustellen. Ich glaube, du könntest Esther Griffel durchaus mögen."

Ich widerspreche meinem Bruder nicht. Letztlich ist er es immer, der genau das Richtige tut. Womöglich ist diese Esther Griffel eine ganz angenehme Person. Vermutlich eine ältere Dame, die in ihrem Leben keinen anderen Sinn mehr sieht, als jungen, unehelichen Mädchen eine gute Bildung zu ermöglichen. So stelle ich sie mir vor, denn wer sonst sollte Interesse an dieser Anstellung haben? So schwer es mir fällt, ich nehme mir selber das Versprechen ab, meine eigenen Belange zurückzustellen, um das Beste für Annalies zu erwirken.

Die GouvernanteWhere stories live. Discover now