Kapitel 22 - Esther

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Die Lampe flackert und ich versuche umsonst, diesen kleinen schwarzen Zeichen eine Bedeutung zu entlocken. Martha hat innerhalb weniger Monate perfekt lesen und schreiben gelernt. Warum kann ich das dann nicht? Ich fühle mich so dumm dabei, ein Kinderbuch nicht zu verstehen, das ich in der hintersten Ecke der kleinen Bibliothek gefunden habe. Wie soll ich irgendwann in der Lage sein, diese ganzen großen Wälzer zu lesen?

Und die ganze Situation macht es nicht gerade leichter. Ich sitze nun schon einige Tage mit dem Baron und Annalies am Frühstückstisch und es ist mehr als einmal vorgekommen, dass Orland von Mailinger mich auf einen Artikel aufmerksam gemacht hat, der „sicherlich interessant für eine Dame Ihrer Stellung ist". Ich habe immer so getan, als wäre ich zu beschäftigt damit, Annalies' Haltung zu korrigieren oder die Herkunft des traditionellen Frühstücksbreis zu erläutern und vertröstete ihn, dass ich später einen Blick darauf werfen würde, wenn ich Zeit dazu hätte.

Baron von Grohting wiederum schlug einen Abend vor seiner Abreise vor, eine Lesestunde zu veranstalten, um seine Nichte beim Rezitieren zu erleben und ich gab vor, zu müde zu sein.

Es schmerzt mich. Es tut mir weh, dass ich mir selbst meine Chancen auf Gesellschaft verbaue. Dass ich Orland von Mailinger das Gefühl gebe, er müsse irgendetwas falsch machen, weil ich mich mehr und mehr von gemeinsamen Aktivitäten zurückziehe. Kurz nachdem sein Bruder aufgebrochen war in seine Baronie, nahm er mich beiseite und entschuldigte sich dafür, dass er mir das Gefühl gegeben hatte, überflüssig zu sein. Dabei fühle ich mich gut aufgehoben in diesem Haus. Nur eben nicht qualifiziert genug.

Was versuche ich mir eigentlich zu beweisen, frage ich mich, während ich dieses Kinderbuch mit dem rosa Einband in der Hand halte, dessen Titel ich nicht entziffern kann. Ich habe viel zu lange vorgegeben, jemand zu sein, der ich nicht bin. Und nun? Ich dachte, diese Anstellung würde alles verändern, würde dafür sorgen, dass ich mich gebraucht fühle. Und anfangs ist es ja auch so gewesen. Doch nun? Nun stehe ich mir wieder selbst im Weg, bin zu feige, um meine Schwächen einzugestehen und mache damit alles an Vertrautheit kaputt, was ich mir aufgebaut habe.

Anfangs habe ich Baron von Mailinger für sein Verhalten verurteilt. Und jetzt verhalte ich mich kein Stück besser. Ich gebe ihm ein schlechtes Gefühl, kurz nachdem er mich in den Kreis seiner Familie eingeladen hat. Und ich gebe Annalies ein schlechtes Gefühl, denn natürlich merkt sie auch, dass an der Stimmung zwischen uns irgendetwas faul ist.

Ein Luftzug fährt durch die kalte Bibliothek und erinnert mich daran, wo ich mich befinde. Nämlich nicht in meinem Zimmer, wo ich mir Grübeleien und Selbstzweifel erlauben kann, sondern in einer Halle voller Bücher, die ihre Schatten auf mich werfen. Ich fröstele.

Kurz darauf schlägt eine Tür zu und ich höre Schritte. Mein Herz setzt einen Schlag aus. Ich greife nach der Lampe, umklammere haltsuchend das Kinderbuch und schleiche die Regalreihe entlang, in der ich mich befinde.
Die Schritte sind verstummt. Mein Herz hämmert in meiner Brust. Die verstaubten Bücher scheinen die Luft anzuhalten. Ich spüre die Anwesenheit einer anderen Person und sie jagt mir einen Schauer über den Rücken.

Ich trete zwischen den Regalen hervor und stoße einen spitzen Schrei aus, als ich mich einem weißen, vom Mond beleuchteten Gesicht gegenübersehe. Auch die andere Person zieht scharf die Luft ein. Ich hebe meine Lampe ein wenig höher, um mein Gegenüber zu identifizieren.

„Ach, Sie sind das", entfährt es mir erleichtert, als ich den Baron erkenne. Auch er atmet erleichtert aus. „Ernst meinte, er hätte jemanden in die Bibliothek gehen sehen. Ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich dachte, es wäre vielleicht Annalies, die nicht schlafen kann. Ich wollte nicht, dass sie hier im Dunkeln alleine herumirrt."

Er mustert mich, wie ich so vor ihm stehe in Morgenmantel und einem nachlässig geflochtenen Zopf. Dieser Aufzug müsste mir peinlich sein, doch ich bin einfach nur froh, einem Herzinfarkt entronnen zu sein.

Die GouvernanteWhere stories live. Discover now