Kapitel 26 - Esther

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Es ist Ende Januar und die Welt geht nach all den Feierlichkeiten schon längst wieder ihren gewohnten Gang.
Ich rühre in meinem Frühstücksbrei, während Annalies zwischen regelmäßigem Gähnen ihr Essen mümmelt. Orland ist wie immer recht schweigsam zu dieser Zeit des Tages. Er hat die Zeitung beiseitegelegt und sieht sich die morgendliche Post durch. Gerade ist er in einen Brief vertieft, der soeben von Ernst gebracht wurde.
Plötzlich erhellt sich sein Gesicht und ein glückliches Lächeln folgt. Er legt das Schreiben beiseite und blickt abwechselnd zwischen mir und Annalies hin und her.
„Annalies, ich habe sehr schöne Neuigkeiten für dich." Die Angesprochene horcht auf. „Der Brief ist von Karden senior. Er teilt mir mit, dass wir heute mit seinem Sohn Richard rechnen dürfen. Anscheinend hat dieser dir einen konkreten Vorschlag anzutragen."
Meine Augen weiten sich vor Überraschung und Unbehagen, während die Angesprochene verständnislos die Stirn runzelt. „Was will der mir denn antragen?", fragt sie begriffsstutzig und flapsig. Ohne Zweifel ruft schon der Name Richard Karden negative Gefühle in ihr hervor. Orland ringt eine Weile um Worte, als wüsste er nicht, wie er seiner Nichte einen Heiratsantrag erklären soll. Schließlich kommt er wohl zu dem Entschluss, dass die Kommunikation solcher Angelegenheiten Frauensache ist, denn er wirft mir einen auffordernden Blick zu. Ich unterdrücke ein Schnauben, setze mich stattdessen aufrechter hin und überlege, wie ich ihr diese brenzlige Nachricht ab besten verständlich machen soll. Ich kann mir ihren Gefühlsausbruch nur zu lebhaft vorstellen, denn im Gegensatz zu Orland weiß ich ganz genau, wie sie zu diesem verzogenen Sprössling steht. Annalies kann sich wortreich darüber auslassen, was für ein Angeber und Langweiler Richard ist.
Ich räuspere mich gewichtig und entscheide mich für die kurze und schmerzlose Variante ohne viel Vorrede. „Annalies, Richard Karden gedenkt, dich zu heiraten."
Die Reaktion folgt prompt. Der Baroness gleitet der Löffel aus der Hand, dieser landet im Brei und bespritzt ihr Kleid mit kleinen, hellen Sprenkeln. Ihr Kopf ruckt nach oben und ihr Mund ist schockiert geöffnet. „Bitte was?!"
Orland strahlt, als Mann natürlich völlig blind für die Gefühle seines Mündels. „Das ist wunderbar, nicht wahr? Ich weiß genau, wie sehr du dich angestrengt hast, um in der Gesellschaft angenommen zu werden und mir zu beweisen, was du alles erreichen kannst. Die Kardens gehören zu den wohlhabendsten und einflussreichsten Familien dieser Gegend und es ist eine Ehre, dass sie dich in Betracht ziehen. Ich bin wirklich stolz auf dich und werde Richard Karden mit Freuden meinen Segen geben."
Annalies' Stirn legt sich zornig in Falten. „Das habt ihr doch die ganze Zeit geplant! Sie, Fräulein Griffel, haben mich gut erzogen, damit ich ihm gefalle, nur damit Onkel Orland mich so schnell wie möglich loswerden kann. Ich will nicht heiraten! Ich hasse Richard Karden! Und ich hasse euch!"
Nach diesem Ausbruch steht sie ruckartig auf, schiebt ihren Stuhl zurück und rennt unter Tränen aus dem Speisezimmer. Ich vergrabe mein Gesicht in den Händen, während Orland seinem Mündel nur fassungslos hinterherblickt.
„Verstehe einer die Frauen", murmelt er vor sich hin und das bringt auch meinen Kragen zum Platzen. „Jetzt tun Sie nicht so, als wäre es schwierig, Annalies zu verstehen. Ihre Nichte trägt das Herz auf der Zunge und man kann ihr jeden Wunsch von den Augen ablesen. Wenn Sie mich fragen, für mich ist es keine Überraschung, dass sie so reagiert."
Orland schaut nun auch mich verunsichert an. „Vielleicht könnten Sie es mir erklären, Esther", bittet er beherrscht, doch ich höre den Unwillen in seiner Stimme. Ich hole tief Luft. „Annalies hasst Richard Karden. Er hat sie einst auf dem Markt von Grara öffentlich beleidigt und bloßgestellt. Und ich bin ehrlich gesagt verwundert darüber, dass Sie das nicht bemerkt haben, denn ihre Abneigung ist ihr jedes Mal deutlich anzusehen, wenn sie ihm gegenübersteht oder auch nur über ihn spricht."
Unter all seiner anbahnenden Verärgerung erkenne ich nun auch Verwirrung. „Aber sie hat doch mit ihm getanzt und sich mit ihm unterhalten. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass sich eine Abneigung in Zuneigung wandelt. Wir haben uns schließlich zu Beginn auch nicht gut verstanden."
Ich rolle mit den Augen. „Sie wollen jetzt nicht ernsthaft eine Geschäftsbeziehung mit einem Heiratsantrag vergleichen, oder? Ich verstehe ohnehin die Eile nicht. Annalies ist sechzehn, das ist ein Alter, in dem eine junge Frau sich noch lange nicht binden muss.  Ich hätte gedacht, dass es Ihnen nichts ausmachen würde, Ihre Nichte noch eine Weile bei sich zu haben."
Orland rauft sich die Haare. Wir haben lange nicht mehr so miteinander diskutiert. Scheinbar gefällt es ihm ebenso wenig wie mir, dass wir unterschiedlicher Meinungen sind.
„Dort, wo Sie herkommen, läuft das Ganze vielleicht anders. Die Frauen in Ihrem früheren Umfeld hatten womöglich an jedem Finger einen Verehrer und konnten sich leisten, wählerisch zu sein und erst dann zu heiraten, wenn sie es für angebracht hielten. Aber meine Baronie ist klein. Wir sind hier auf dem Lande und die einigermaßen gut betuchten Familien lassen sich an einer Hand abzählen. Annalies hat nicht die Perspektiven, die sie womöglich in einer großen Metropole hätte und ihre Herkunft tut das Übrige. Vielleicht können Sie mich nicht verstehen, aber ich sehe hier eine Chance und ergreife sie. Richard Karden ist für ihre Stellung eine großartige Partie. Wir können uns glücklich schätzen, dass sie hier, in ihrer neuen Heimat, bleiben kann, dass die Familie über ihre Herkunft hinwegsieht und dass die Kardens ein Einkommen erzielen, das ihr einen Lebensstandard ermöglichen wird, den sie sich vor einem Jahr niemals erträumt hätte. Und bevor Sie mir mit irgendwelchen gefühlsduseligen Argumenten kommen, berücksichtigen Sie bitte, dass ich, im Gegensatz zu Ihnen, die wirkliche Verantwortung für dieses Mädchen und für seine Zukunft trage." Mir bleibt die Luft weg. Das hat er jetzt nicht im Ernst gesagt, oder?
Ich werde nun richtig wütend und schleudere ihm entgegen: „Ach, Sie tragen hier die Verantwortung?! Was ist es dann bitte, was ich die ganze Zeit über gemacht habe? Ich habe Ihre Nichte an den Punkt gebracht, an dem sie jetzt ist und ja, dafür werde ich auch bezahlt. Aber Sie vergessen etwas ganz Entscheidendes: Dass ich Annalies mindestens so gut kenne wie Sie. Und so gleichgültig das Glück Ihrer Nichte Ihnen sein mag, mir ist es nicht egal!
Sie schwärmen hier von diesem Sprössling Richard Karden, als wäre er ein Hauptgewinn, aber Sie vergessen, dass Annalies einen höheren Rang hat, einen Titel besitzt und aus gegenwärtiger Sicht einmal ein beachtliches Erbe antreten wird. Wollen Sie jemanden wie Richard tatsächlich irgendwann als Patron Ihrer Baronie sehen? Wenn Sie das jetzt bejahen können, dann kennen Sie entweder den jungen Mann nicht richtig, oder die Zukunft Ihrer Baronie ist Ihnen völlig egal!"
Angesichts meiner deutlichen Worte bleibt Orland für einen Moment der Mund offenstehen. Dann hat er sich wieder in der Gewalt und sagt mit gebieterischer Stimme: „Sie wissen, dass ich Ihre Meinung generell schätze und Sie deshalb in meinem Haushalt Rechte genießen, die weit über die Kompetenzen einer Gouvernante hinausgehen. Aber das geht zu weit. Dieses eine Mal fordere ich, dass Sie sich an meinem Wunsch orientieren. Und vor allem untersage ich Ihnen, dass Sie sich herausnehmen, über die Führung einer Baronie zu urteilen. Sie wissen vielleicht, was das auf dem Papier bedeutet, doch Sie haben keine Ahnung, was es in Wirklichkeit heißt."
Ich schiebe trotzig mein Kinn nach vorne. „Es geht mir nicht um Ihre Baronie. Es geht mir um Annalies. Und wenn Sie der fälschlichen Annahme verfallen sind, dass eine Heirat der einzige Weg ist, auf Dauer Glück zu erlangen, so muss ich Sie darin korrigieren. Lieber würde ich mein ganzes Leben lang ledig bleiben, als solch einen aufgeblasenen Gockel wie Richard Karden zu heiraten. Und Ihre Nichte wird mir darin zu einhundert Prozent beipflichten."
Orland atmet tief durch, um sich zu beherrschen.
„Ich erwarte, dass Sie Annalies ausreichend gut auf den Besuch heute vorbereiten. Und ich erwarte, dass sie eine positive Antwort gibt. Und mir ist egal, was Sie davon halten."
Mit diesen Worten greift er nach seiner Zeitung und das Gespräch ist beendet.

***

„Annalies, mach bitte die Tür auf!" Immer wieder klopfe ich zaghaft an, in der Hoffnung, dass sie mir die Chance gibt, ihr Bild von mir geradezurücken. Der Streit mit Orland liegt mir schwer auf der Seele, doch ich schiebe die Gedanken daran beiseite. Es kommt überhaupt nicht infrage, dass ich die Baroness in eine Ehe schicke, die nur zu ihrem Unglück führt. Ich habe bei Hofe genug Ehen erlebt, die daran gescheitert sind, dass die freie Wahl eines Beteiligten übergangen wurde. Und das wird diesem Mädchen, das ich so lieb gewonnen habe, nicht passieren.
„Annalies!", versuche ich es wieder. Ich höre ein Schniefen. „Gehen Sie weg! Ich dachte, Sie würden mir helfen, aber stattdessen machen Sie mit meinem Onkel gemeinsame Sache und erziehen mich zu einer Dame, damit ich den dümmsten Männern gefalle und schnell verheiratet werden kann! Ich hatte erwartet, dass Sie mir helfen wollen!" Jetzt höre ich ganz deutlich ein Wimmern.
„Das ist nicht wahr, Annalies!", widerspreche ich ihr durch die Tür. „Natürlich möchte ich in erster Linie dich unterstützen. Für jemanden wie Richard Karden hättest du bei Weitem nicht so viel lernen müssen. Und wenn du ein paar Minuten länger im Esszimmer geblieben wärst, dann hättest du mitbekommen, dass ich mich deswegen mit deinem Onkel gestritten habe."
Im Inneren des Zimmers wird es gänzlich still. Nach ein paar Sekunden die zaghafte Frage: „Sie haben sich wirklich mit ihm gestritten? Meinetwegen?" Ich muss lächeln, obwohl mir eigentlich zum Heulen zumute wäre. „Aber sicher. Deinetwegen würde ich mich mit der ganzen Welt streiten. Denkst du, ich würde die Ehe mit dem Mann unterstützen, der dich so schändlich beleidigt hat?"
Ich höre ein leises Tapsen, dann dreht sich der Schlüssel im Schloss und ein verquollenes, rotes Gesicht erscheint in der Tür. „Könnte ich vielleicht mit Ihnen reden, Fräulein? Ich weiß nicht mehr weiter."
Ich nicke und folge ihr ins Zimmer. Wir lassen uns in ihrer Sitzecke nieder und schauen eine Weile einfach nur nach draußen, bis sie den Mut findet, von selbst das Gespräch zu beginnen.
„Wissen Sie, ich habe wirklich kurz gedacht, dass Sie das geplant haben." Ich lächele ihr ermutigend zu. „Annalies, glaubst du nicht, dass ich selbst schon verheiratet wäre, wenn ich die Ehe für das größte Ziel einer Frau halten würde? Wir müssen in erster Linie uns selbst treu bleiben. Du musst deinen eigenen Weg im Leben finden, auch wenn dein Onkel das noch nicht so ganz verstehen kann." Ihre Augen werden erneut feucht und sie beginnt, wieder zu schluchzen.
„Aber was soll ich denn tun? Können Sie mir nicht helfen? Können Sie nicht irgendetwas machen, damit er das Interesse an mir verliert? Und wird Onkel Orland nicht furchtbar böse auf mich sein? Ich habe Angst, dass er mich dann nicht mehr mag und nicht mehr hier haben will."
Ich schüttele den Kopf. „Also erst einmal wird dein Onkel dich immer gernhaben. Das weiß ich sehr genau. Auch, wenn dir das nicht logisch erscheint, er möchte dich vor allem deshalb verheiraten, um dich abgesichert und in seiner Nähe zu wissen. Ich glaube, wenn es einen anderen Plan für deine Zukunft gäbe, dann würde er nicht so auf dieser Heirat bestehen."
Sie wischt sich mit dem Handrücken über das Gesicht. „Ich will Hofdame werden, so wie Sie. Ich will viele Dinge lernen, ich möchte Neues kennenlernen. Aber ich will auf keinen Fall jetzt heiraten."
Ich lächele ihr ermutigend zu, obwohl ich keine Ahnung habe, wie ich sie an einen königlichen Hof bekommen soll. „Wenn das so ist, Annalies, dann behalte dein Ziel vor den Augen und kämpfe dafür. Ich kann dir nicht sagen, was richtig oder falsch ist, aber wenn du es spürst, dann tu alles dafür, um zu erreichen, was du möchtest. Du kannst Richard Kardens Antrag nicht entgehen, nicht so kurzfristig. Und es wird sehr unangenehm für dich, ihn abzuweisen. Aber wenn das für dich die richtige Entscheidung ist, dann darfst du dich in deiner Entschlossenheit nicht einschüchtern lassen."

Die GouvernanteKde žijí příběhy. Začni objevovat