Kapitel 29 - Esther

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Seit Tagen herrscht diese angespannte Stimmung zwischen uns. Seit dem Streit. Wann ist es nur wieder so kompliziert geworden mit uns beiden? Ich merke, wie der Baron mir immer wichtiger wird, wie er langsam mein Herz gefangen nimmt und wie immer sehnlicher der Wunsch in mir aufkeimt, diese Vertrautheit zu vertiefen. Auf der anderen Seite habe ich furchtbare Angst vor den Folgen. Doch mit ihm streiten ist eigentlich das Letzte, was ich möchte.

Und doch kann ich diese Auseinandersetzung nicht einfach beiseiteschieben. Orland unternimmt immer wieder feinfühlige Versuche, auf mich zuzugehen und sich zu entschuldigen. Doch ich weiß gar nicht, ob ich wirklich im Recht gewesen bin.

Es hat mich so verletzt, als einfache Bedienstete abgestempelt zu werden, doch wenn ich genau darüber nachdenke, dann bin ich genau das: eine einfache Angestellte. Ich hätte mir nicht erlauben dürfen, Annalies zu beeinflussen. Ich hätte mir nicht anmaßen sollen, besser zu wissen, was gut für sie ist.

Und doch kann ich meine Worte und das Versprechen, ihr eine Stellung zu verschaffen, nicht zurücknehmen. Denn ich weiß, dass es das ist, was sie will.

Annalies blickt unsicher zwischen uns beiden hin und her, während wir wie jeden Morgen beim Frühstück sitzen. Seit Tagen verzichte ich darauf, Konversation zu betreiben und beschränke mich auf die nötigen Ermahnungen. Orland vertieft sich, wie immer, in die Zeitung oder seine Briefe. Mit seiner Nichte ist er inzwischen wieder im Reinen. Ich habe ihm mit knappen Worten dazu geraten, als er mit mir über das Geschehene reden wollte. Ich sagte, die Beziehung zu Annalies sei im Moment wichtiger als die Streitereien zwischen uns.

Mit dem Ergebnis, dass ich mit Annalies weitestgehend unbefangen umgehen kann, er ebenso. Doch sobald wir uns zu dritt in einem Raum befinden, ist die Atmosphäre merkwürdig.

Orland räuspert sich, um unsere Aufmerksamkeit zu erlangen und legt einen Brief beiseite, den er soeben gelesen hat. Ich rieche das parfümierte Papier bis zu mir und frage mich, welche Person Orland solch eine aufdringliche, billige Mitteilung zukommen lässt. Doch meine Frage wird beantwortet, ohne dass ich nachhaken muss.

„Annalies, deine Mutter hat geschrieben." Annalies verschluckt sich bei diesen Worten an ihrem Frühstückstee und hustet eine Weile, ehe sie wieder gut Luft bekommt.

Ich weiß nicht viel über Orlands Schwester. Dass Annalies vernachlässigt wurde und unehelich ist, spricht gewiss seine eigene Sprache, doch darüber hinaus ist mir kaum etwas bekannt.

Orland fährt fort: „Sie teilt uns mit, dass sie sich verlobt hat. Serlan Ottowa heißt der Auserwählte. Er ist ein Kaufmann aus dem Ausland mit, so schreibt sie, einem angemessenen Vermögen. Sie hat ihn bei einem Kuraufenthalt kennengelernt, denn scheinbar musste sie eine hartnäckige Erkältung auskurieren. Wie dem auch sei, sie kündigt für morgen ihren Besuch an, damit wir, ich zitiere: ‚alle unserer Pflicht nachkommen können, zu dieser Verlobung zu gratulieren.'"

Ich bilde mir ein, dass Annalies etwas blass im Gesicht wird. Orland greift nach ihrer Hand.

„Du musst ihr nicht begegnen, wenn du es nicht willst. Ich möchte sie auch nicht lange im Haus haben, aber da sie sich selbst eingeladen hat, kann ich auch nicht viel tun, um ihr Erscheinen zu verhindern. Auf jeden Fall werden Esther und ich dich nicht mit ihr allein lassen. Oder?"

Die letzte Frage richtet sich an mich und ich nicke eilig. „Natürlich. Annalies, du weißt, dass ich für dich da bin."

Annalies schluckt krampfhaft. „Aber sie kann mich nicht wieder mitnehmen, oder? Ich bleibe doch bei dir, Onkel Orland?"

Der Angesprochene lächelt ermutigend. „Selbstverständlich. Als Vormund trage ich die Entscheidung über deinen Aufenthaltsort."

Annalies ist bei diesem Zugeständnis sichtlich erleichtert und löffelt eilig ihren Frühstücksbrei aus. Als sie sich zurückzieht, will ich sie begleiten, doch Orland hält mich zurück.

„Einen Moment noch, Esther. Bitte." Er wartet darauf, dass seine Nichte das Speisezimmer verlässt und beginnt vorsichtig: „Ich fühle mich in der Pflicht, Sie auf meine Schwester vorzubereiten. Ich glaube, dass ihr Maß an Untugend alles übersteigt, was Sie in Ihrem Leben kennengelernt haben. Sie dürfen gerne alles über meine Familie denken, was Sie möchten, aber ich bitte Sie, für Annalies einzustehen. Ihr Verhältnis zu Seraphina übersteigt eine einfache Ablehnung. Durch die Vernachlässigung in ihrer Kindheit hat meine Nichte eine Angst vor ihrer Mutter entwickelt. Annalies wurden Mahlzeiten vorenthalten, sie wurde geschlagen, in ein fremdes Internat mit zweifelhaften Methoden gesteckt – kurz: Es ist die Hölle für ein junges Mädchen gewesen.

Ich habe erst nach und nach in den letzten Monaten von dem vollen Ausmaß dieser Quälereien erfahren, Annalies hat sich mir Stück für Stück anvertraut, als sich unsere Beziehung durch Ihre Hilfe verbessert hat.

Am liebsten würde ich meine Schwester gar nicht hier empfangen. Dieses Recht hat sie verwirkt. Doch ich hoffe, dass ihr Verlobter mit der Zeit vielleicht einen positiven Einfluss auf sie haben wird. Und ich möchte ihr die Chance geben, sich bei ihrer Tochter zu entschuldigen, falls sie es darauf anlegen sollte.

Was Ihre Aufgabe morgen betrifft, Esther: Bitte haben Sie ununterbrochen ein Auge auf Annalies. Sie haben das Talent, die Mimik meiner Nichte zu lesen. Sollten Sie das kleinste Anzeichen von Unwohlsein oder Aufgewühltheit bemerken, dann erfinden Sie bitte eine Ausrede, um Annalies aus der Runde zu entschuldigen."

Ich nicke gewichtig. „Sie können auf mich zählen, Orland." Er lächelt leicht. „Das weiß ich. Schließlich kämpfen Sie für meine Nichte wie eine Löwin."

Ich blicke zu Boden. „Es tut mir leid, Orland. Ich habe meine Befugnisse überschritten. Ich versichere Ihnen, dass das nie wieder vorkommen wird."

Orland tritt zaghaft einen Schritt auf mich zu. „Es täte mir leid, wenn Sie Ihren starken Willen meinetwegen zügeln würden. Ich betrachte es als Bereicherung, mit Ihnen zu streiten, auch, wenn es mir nicht gefällt. Aber letztlich bin ich nur ein Mann, der nie zuvor für ein junges Mädchen gesorgt hat. Wohingegen Sie genau wissen, wie Annalies sich fühlen muss. Manchmal ist es schwer, Ihnen diesen Vorteil zu gönnen, aber ich lerne daraus und bekomme die Chance, es beim nächsten Mal besser zu machen."

Ich erwidere: „Sie müssten mich nicht beneiden. Annalies verehrt Sie. Sie sind es, der ihr das Zuhause bietet, das sie verdient. So viel sie auch von mir hält, ich bin nicht ihre Familie, so wie Sie es sind."

Orland sinnt einen Moment über etwas nach. „Ich glaube, da irren Sie sich. Durch Sie sind wir eine Familie geworden, Esther. Annalies kennt dieses Haus, diese Familie nicht ohne Sie. Und ich behaupte, dass sie darunter leidet, wie wir uns anschweigen."

Er streckt mir seine Hand entgegen. „Frieden?" Ich zögere nicht einen Moment, sondern ergreife seine Hand. „Natürlich. Frieden."


Die GouvernanteWhere stories live. Discover now