Kapitel 44 - Orland

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„Onkel Orland!" Annalies klingt verletzt und außer Atem. Sie eilt mir hinterher, während ich durch die große Halle des Palastes der Freitreppe entgegenstrebe. „Du kannst doch jetzt nicht auch einfach so gehen." Ihre Stimme bricht und ich merke, wie sie sich bemüht, die Fassung zu wahren.
Ich trete hinaus in den sonnigen Tag, der mich mit seinem strahlenden Wetter verhöhnen will. Alles ist schön und wunderbar, nur innerlich bin ich vollkommen leer.
Es ist keine Viertelstunde her, dass Annalies aufgelöst an mein Zimmer geklopft, mir einen Brief unter die Nase gehalten und geklagt hat, Esther wäre weg. Ich hatte Esthers warme Abschiedsworte an meine Nichte überflogen und musste mich danach erst einmal am Türrahmen festhalten, weil mir schwindelig wurde.
Esther ist weg. Einfach so aus unserem Leben verschwunden. Und ich bin im Begriff, das Gleiche zu tun. Auch, wenn ich weiß, wie schäbig es gegenüber Annalies ist. Aber was hält mich noch hier? In Esthers Heimat, zwischen Esthers glücklicher Familie mit der neugeborenen Prinzessin und der schwangeren Gräfin von Molda, mit den liebevollen Blicken des Königs und dem ungetrübten Humor des ehemaligen Prinzregenten. Es erscheint mir unmöglich, anderen ihr Glück zu gönnen, wenn meines mir in den letzten Stunden wie Sand zwischen den Fingern zerronnen ist.
„Wir haben uns doch gar nicht richtig verabschiedet. Kommst du mich irgendwann besuchen?" Annalies' Verzweiflung ist herzzerreißend. Ich bin wohl noch nie so ein schrecklicher Onkel gewesen, selbst zu Beginn nicht.
Ich zwinge mich zum Stehenbleiben und wende mich zu ihr um. „Hör zu, Annalies, ich... Ich weiß nicht, wann ich wieder herkomme. Vielleicht musst du mir erstmal ein paar Besuche abstatten." Sie blickt traurig zu Boden. „Es ist wegen Fräulein Griffel, stimmt's? Ich habe eigentlich immer schon gewusst, dass du sie viel mehr magst, als du zugeben willst. Und ich finde es traurig, dass sie weg ist. Ich glaube, sie wäre eine richtig tolle Tante geworden."
Ich schlucke krampfhaft, um nicht die mühsam aufrecht erhaltene Beherrschung zu verlieren. „Das wäre sie zweifellos", sage ich leise.
Ich nehme meine Nichte in die Arme. „Du wirst eine wunderbare Hofdame, Annalies. Ich bin sehr stolz auf dich." Annalies zittert ein wenig, doch sie gibt sich tapfer, als ich sie loslasse. Ich wende mich von ihr ab und schreite über den Vorplatz Richtung Kutsche, während ich sie davonrennen höre. Abschiede sind für jeden schwer, doch ich schätze für sie, die nie eine richtige Familie hatte, ganz besonders.
Ich bin darauf und daran, in die Kutsche zu steigen, da werde ich von einer erbosten Frauenstimme unterbrochen. „Na, Sie trauen sich vielleicht was, Herr Baron!" Ich drehe mich verwirrt um. Königin Martha steht da, die Hände in die Seiten gestemmt und blickt mich mürrisch an. Trotz ihrer zierlichen Gestalt und den tanzenden Sommersprossen im Gesicht, habe ich bei diesem verärgerten Ausdruck absolut Respekt vor ihr.
„Sie kommen her, stiften eine Menge Chaos und dann wollen Sie ohne ein Wort verschwinden, ja?" Ihr Tonfall nimmt eine vorwurfsvolle Färbung an. Ich bin ganz verdattert. Hinter ihr taucht der König auf und zwinkert mir zu, was meine Verwirrung nicht gerade mindert.
„Majestät, mir ist bewusst, dass ich nicht gerade höflich bin", gebe ich verunsichert zu, „aber ich bin der Meinung, dass es nun nichts mehr gibt, was mich hier hält." Martha schüttelt den Kopf. „Da bin ich aber anderer Meinung. Sie kommen mit mir mit, Durchlaucht, und dann unterhalten wir uns mal."
Sie dreht sich auf dem Absatz um und steigt die Stufen zum Schlossportal hinauf. Zögerlich folge ich ihr, bis ich zum König aufgeschlossen habe. Wir betreten den Palast gemeinsam.
„Wissen Sie", meint König Titus, „es lohnt sich gar nicht, mit ihr zu streiten. Man hat eine Menge Ärger, nur, um am Ende festzustellen, dass sie sowieso Recht hat." Er meint es witzig, doch ich merke, wieviel Liebe aus seinen Worten spricht. Trotz meiner innerlichen Leere schleicht sich ein Lächeln auf meine Lippen. „Sie beide sind wohl das ungewöhnlichste Königspaar, das jemals existiert hat, wenn ich das so sagen darf, Majestät." Der König lacht. „Sie dürfen, Baron von Mailinger. Und glauben Sie mir, ich weiß, wie es Ihnen gerade geht. Ich meine, Martha hat mir zum Glück einen ernsthaften Liebeskummer erspart, aber das Leben hat mich vor eine Reihe von Widrigkeiten gestellt. Und ich versichere Ihnen: Wenn jemand einen Ausweg kennt, dann ist es meine Ehefrau."
Nach einigen Minuten finden wir uns vor einer dunklen Holztür wieder. Die Königin stößt sie schwungvoll auf und ich folge ihr in das dahinterliegende Studierzimmer. Der König schließt die Tür dann hinter uns und nickt mir aufmunternd zu.
Ich werde nervös. Ich weiß, dass Königin Martha eine sehr unkonventionelle, herzliche Dame ist, aber trotzdem scheint sie die Dinge, die ihr wichtig sind, sehr ernst zu nehmen. Ein wenig fühle ich mich so, als würde ich gleich eine Standpauke von meinem Vater erhalten. Dabei weiß ich gar nicht so genau, was ich eigentlich falsch gemacht habe.
„Setzen Sie sich", lädt sie mich ein. Ihr Gesicht und ihre Stimme werden weich. Ich folge ihrer Aufforderung.
„Ich mag Sie, Durchlaucht. Ich mag Sie wirklich. Sie sind der Mann, den Esther finden musste, um sich selbst zu finden. Ich glaube, dass Sie kein einfacher Mensch sind, aber das ist meine Schwester nicht, das ist mein Mann nicht und das bin ich auch nicht. Und das macht uns zu einzigartigen Personen. Mit Stärken und Schwächen.
Die Schwäche meiner ältesten Schwester ist nicht, dass sie einen Fehler gemacht hat zu einer Zeit, als sich ihr Charakter noch geformt hat. Esthers Fehler ist, dass sie sich selbst nicht verzeihen kann. Ihr Fehler, Durchlaucht, ist, dass Sie meine Schwester haben gehen lassen. Obwohl Sie sie lieben."
Ich schüttele den Kopf. „Ich hatte keine Wahl. Sie hat ihre Entscheidung getroffen, ohne, dass ich davon wusste. Und in ihren Entscheidungen ist sie wie eine Naturgewalt. Sie nimmt selten auf irgendetwas um sich herum Rücksicht. Ich habe ihr einen Antrag gemacht und sie hat abgelehnt. Ich habe mir vorgenommen, mit ihr darüber zu reden, aber diese Chance hat sie mir auch genommen." Ich schüttele den Kopf über mich selber. Warum sage ich ihr das alles? Nicht mal in Gegenwart meines Bruders fällt es mir leicht, meine Empfindungen auszudrücken. Doch bei der Königin habe ich das Gefühl, dass sie mir helfen kann.
„Ich liebe meine Familie", sagt Martha sanft. „Und ich will das Beste für Esther. Deshalb habe ich ihr damals all die Zugeständnisse gemacht, als sie verbannt wurde. Als ich sie verbannt habe. Ich glaube aber, dass meine Schwester das nie so richtig sehen konnte. Sie hat nur gesehen, dass ich sie bestrafte, nicht dass ich mehr für sie wollte. Und deshalb ist es auch mein Fehler, dass sie sich nicht vergeben kann. Dieses Mal wollte ich es anders machen. Ich wollte sie unterstützen, damit sie wieder an sich glaubt und sich ernst genommen fühlt. Und ich habe ihr zu ihrer neuen Stelle verholfen. Vielleicht sind Sie deshalb sauer auf mich. Aber für mich war es die einzige Möglichkeit, sicher zu wissen, wo sie ist. Damit ich Sie, Durchlaucht, wissen lassen kann, wo sie ist."
Ich seufze. „Was bringt es mir, zu wissen, wo sie ist? Sie will dort sein und nicht bei mir. Sie ist stolz und wird nicht einfach zugeben, dass sie eine falsche Entscheidung getroffen hat."
Königin Martha schüttelt den Kopf. „Ich kenne Esther. Sie hat die ganze Zeit gewusst, dass sie einen Fehler macht, aber es irgendwie geschafft, sich vor allen mit fadenscheinigen Begründungen zu rechtfertigen. Sie musste von hier fort, um zu bemerken, was ihr fehlt. Und ganz sicher wird ihr neuer Arbeitsplatz bei dieser Erkenntnis auf die Sprünge helfen."
„Wo hast du sie hingeschickt?", fragt der König interessiert. Seine Frau lächelt, mit sich selbst zufrieden. „Zu Graf von Guondal." Der König lacht auf und wendet sich, immer noch amüsiert, an mich. „Entschuldigen Sie, Durchlaucht, ich weiß, das ist alles andere als lustig für sie. Aber Guondal..." „Graf von Guondal verachtet die Krone", wirft die Königin trocken ein. „Und alles was mit ihr zu tun hat. Ein gelöstes Verlöbnis hat zwar nicht sein Herz, aber seinen Stolz verletzt. Er führt in seinem Anwesen ein striktes Regime und ich bin sicher, dass sich nicht mal seine Familie in diesem Haus wohlfühlt, geschweige denn die Dienerschaft. Der perfekte Ort für Esther, zur Besinnung zu kommen."
Sie wird wieder ernst und fokussiert mich. „Lieben Sie Esther?" „Ja", sage ich schlicht. „Und sind Sie bereit, ihr das irrationale Davonlaufen zu verzeihen und einen weiteren Versuch zu unternehmen, sie glücklich zu machen?" Ich nicke. „Ja", antworte ich erneut. „Dann schlage ich Ihnen vor, Sie verbringen hier noch eine angenehme Woche auf die Kosten des Königs", sie wirft ihrem Mann ein inniges Lächeln zu, „und starten dann einen zweiten Anlauf."
Ich wünschte, ich hätte den Optimismus der Königin. Ich weiß nicht, ob ich an ihren Plan glauben soll, doch ich kann nicht verhindern, dass in mir neue Hoffnung aufkeimt. Und ich hoffe inständig, dass sie nicht enttäuscht wird.

Die GouvernanteWhere stories live. Discover now