Kapitel 36 - Esther

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Die Kutsche holpert unangenehm und wieder einmal bin ich froh, dass unsere Fahrt sich dem Ende nähert. Auch wenn mir ein anderes Ziel als der calische Palast deutlich lieber wäre.
Annalies ist eingedöst und hat ihren Kopf an meine Schulter gelehnt. Durch die Aufregung hat sie in der letzten Nacht in dem Gasthaus, in welchem wir nach unserer ersten Etappe übernachtet haben, nicht sehr gut geschlafen. Ich ebenso wenig. Doch im Gegensatz zu ihr kann ich auch jetzt kein Auge zu tun.
Zum einen, weil mir vor dem graut, was mich erwartet. Wie werden die Menschen bei Hofe reagieren? Wie wird man mich behandeln? Und zum anderen, weil es mir unangenehm wäre, wenn Orland mich im Schlaf beobachtet.
Seit sein Bruder ihn besucht hat, wirkt er oft mit den Gedanken ganz woanders und etwas unfokussiert. Vermutlich ist auch er aufgeregt, wie sich alles ergeben wird.
Momentan studiert er neugierig die Landschaft, die am Fenster vorbeizieht. Als er merkt, dass ich ihn beobachte, lächelt er mir zu und deutet dann nach draußen.
„Kennen Sie sich hier schon aus? Oder sind wir noch zu weit entfernt vom Palast?" Ich folge seinem Blick und erkenne nicht weit entfernt zwischen Bäumen ein mir gut bekanntes Anwesen.
„Das ist Kroesus", informiere ich Orland und bin überrascht, wie gut es sich anfühlt, etwas Vertrautes zu sehen. „Es ist der Hauptsitz des gleichnamigen Fürstentums. Der Fürst und die Krone führten stets eine Art Hass-Liebe. Der König kann nicht ohne diese Region des Landes, aber eine Zusammenarbeit ist ebenfalls schwierig, weil Kroesus besondere Rechte genießt. Erst seit König Titus auf dem Thron ist, gibt es eine friedliche Einigung. Das Königspaar und das Fürstenpaar verbindet eine enge Freundschaft."
Orland hört interessiert zu. „Kennen Sie diese Herrschaften auch persönlich?", fragt er neugierig nach. Ich lächele unwillkürlich. „Fürst von Kroesus eher vom Sehen. Aber seine Gattin Theodora ist Hofdame gewesen. Sie hat mich an den Hof geholt. Wir sind einige Zeit so etwas wie Schwestern gewesen."
Auf Martha und Titus gehe ich nicht näher ein. Ich fürchte, dass Orland meine Verbindung zu den beiden früh genug erfahren wird.
„Wann werden wir ungefähr da sein", erkundigt er sich. „In etwa einer halben Stunde", schätze ich. „Wir sollten Annalies wecken, damit sie noch munter werden kann."

***

Die Palaststadt hat sich verändert. Zu meiner Zeit als Hofdame war diese Stadt-in-der-Stadt ein geheimer Teil Calias für die besten Handwerker und Künstler ihrer Zunft. Als wir jetzt die dicke Mauer passieren, entdecke ich ein buntes und vielfältiges Treiben. Menschenmassen haben sich an beiden Seiten der Straße gruppiert, um die Ankunft der königlichen Gäste zu verfolgen und all jenen zuzuwinken, die zur Taufe der Prinzessin in den Palast geladen sind.
Annalies betrachtet die jubelnden Menschen vor dem Kutschenfenster mit vor Staunen weit aufgerissenen Augen und auch Orlands Vorstellungen scheinen weit übertroffen zu sein. Ich versuche, mich so weit es geht hinter einem Vorhang zu verbergen. Ein Luxus, der mir nicht mehr möglich sein wird, wenn ich die Kutsche verlassen muss.
„Warum freuen sich die Menschen so über uns?", fragt Annalies. Ich antworte: „Nun ja, es ist ihre Möglichkeit, am Leben der Krone teilzuhaben. Zu wissen, wer an den Feierlichkeiten teilnimmt und die Gäste zu begrüßen, ist ihre Art, ein Teil dieses Geschehens zu sein."
Annalies schürzt nachdenklich die Lippen. „Ich glaube, wenn ich nicht eingeladen wäre, würde ich auch dort stehen und zuschauen."
Unsere Kutsche verlangsamt sich an der Palastmauer aus Sandstein, deren filigranes Tor wie üblich von zwei Wachen in blau-goldener Uniform für das Gefährt geöffnet wird. Kaum haben wir die Mauer passiert, dringt der Lärm kaum noch an mein Ohr und ich zittere angesichts des Anblicks dieses mir wohlbekannten Gebäudes. Der Palast von Calia.
Die Kutsche hält vor der Freitreppe und ein bereitstehender Lakai öffnet umgehend die Kutschentür und klappt die Stufen hinunter.
Orland wirft mir einen Blick zu. „Dann wollen wir mal...", murmelt er und verlässt als erstes unser Reisegefährt. Der Lakai hält eine Hand bereit, um uns Damen beim Aussteigen zu helfen und ich nicke Annalies aufmunternd zu.
„Du bist als nächste an der Reihe, Annalies. Bei Hofe gilt ein striktes Protokoll der Rangfolge und darin stehst du eindeutig höher als ich."
Das Mädchen nickt und nimmt schüchtern die Hand entgegen, die ihr dargeboten wird. Ich folge ihr.
Sobald ich festen Boden unter den Füßen habe, betrachte ich das Spalier, das sich seitlich der Treppe postiert hat. Ich kenne diese Gesichter nur zu gut, doch zu meiner Überraschung begegne ich keinen argwöhnischen oder bösen Blicken. Maximal etwas Neugierde.
Bevor die Situation unangenehm werden kann, tritt in geübter Manier Monsieur Gabla vor, der erste Butler des Palastes.
„Willkommen im Palast von Calia, Durchlaucht, Baroness, Edle Dame." Für jeden von uns verbeugt er sich formvollendet. „Ihre königlichen Majestäten heißen Sie ganz herzlich willkommen und freuen sich darauf, Sie heute Abend auf dem königlichen Ball zur Taufe der Prinzessin begrüßen zu dürfen.
Lucinda wird den Baron und die Baroness in den Nordflügel begleiten, für Sie, Edle Dame", er wendet sich an mich, „ist ein Appartement im Südflügel vorbereitet. Irina wird sich um Sie kümmern."
Ich bin perplex angesichts dieser Anrede und dem Zuvorkommen. Ich räuspere mich unangenehm berührt. „Danke, Monsieur, aber ich begleite den Baron und die Baroness in den Nordflügel. Und die korrekte Anrede lautet Fräulein Griffel", korrigiere ich den ersten Butler. Nun scheint er etwas perplex zu sein.
„Aber Edle Dame, diese Anrede steht Ihnen zu!" Ich schüttele den Kopf. „Nicht mehr. Diese Anrede rechtfertigt nur eine Stellung als Hofdame." Gabla erwidert: „Nicht ausschließlich, Edle Dame. Ihre Verbindung zur Königsfamilie begründet diese Anrede mindestens ebenso."
Ich werfe einen kurzen Seitenblick zu Orland und Annalies, die nicht so aussehen, als würden Sie den Sinn dieses Gespräches nachvollziehen können. Immerhin scheinen sie aber auch nicht darüber nachzudenken, was es mit meiner Verbindung zur Königsfamilie auf sich haben kann.
„Obersten Stellenwert hat derzeit meine Anstellung als Gouvernante der Baroness. Und als solche weigere ich mich, durch eine Anrede in eine höhere Stellung erhoben zu werden als sie."
Monsieur Gabla denkt einen Moment darüber nach und lenkt dann schließlich ein. „Wie Sie wünschen, Fräulein Griffel. Doch bezüglich der Unterbringung ist nicht mehr viel auszurichten. Die Gästezimmer sind bis auf das letzte belegt."
Ich lege meine Stirn in Falten. „Welchen Raum bezieht die Baroness?", hake ich nach. „Das Zimmer Louisa, benannt nach..." „Louisa de Marc, ich weiß. Ich sehe das Problem nicht. Soweit ich mich erinnere, gibt es ein angrenzendes Zofenzimmer. Ich werde dieses beziehen."
Gabla bleibt für einen Moment der Mund offenstehen. „Aber das ist..." „Was? Doch wohl nicht belegt?" Der Butler räuspert sich unbehaglich. „Es ist nicht sehr komfortabel, Edle... Fräulein Griffel."
Ich seufze. „Ich nehme das Zofenzimmer. Und ich wünsche keine weitere Diskussion. Weitere Verzögerungen, in denen die Baroness um ihre wohlverdiente Erholung kommt, sind nicht tragbar."
Monsieur Gabla verbeugt sich erneut. „Ganz, wie Sie wünschen." Damit sind nun offenbar alle Organisatorien geklärt.
Als hätte er nur darauf gewartet, was er vermutlich auch hat, tritt Herr von Kämmerlich – für seine Verhältnisse äußerst schlicht in Anthrazit und Gelb – vor, klopft seinen Stab auf den Boden und verkündet mit seiner gewohnt durchdringenden Stimme: „Ich verkünde die Ankunft seiner Durchlaucht Orland Baron von Mailinger, der ehrenwerten Annalies Baroness von Mailinger und der hochverehrten Edlen Dame Esther Griffel, ehrwürdige Schw..."
„Genug!", rufe ich panisch aus und unterbreche somit diese ausgefeilte Ankündigung. Das fehlt noch, dass Orland so ganz nebenbei mitbekommt, wie ich als ehrwürdige Schwester Ihrer Majestät Königin Martha angekündigt werde. Denn, da bin ich mir sicher, genau so hätte er seinen Satz vollendet.
Orland und Annalies sehen mich überrascht an, aufgrund meines Ausrufs und auch die Dienerschaft beobachtet mich. Ich streiche mir nervös über mein Kleid.
„Es war eine lange Reise. Ich denke, wir sind alle etwas erschöpft. Lucinda, wenn du so nett wärst...", wende ich mich an die Hausdame des Nordflügels, die sofort herbeieilt, knickst und dann uns voran die Freitreppe hinaufsteigt.
Wir folgen ihr. Wir betreten die Eingangshalle und Annalies sieht sich staunend um. Orland lässt sich neben mich zurückfallen und fragt besorgt: „Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Esther? Sie wirken so... aufgewühlt."
Ich lächele, beruhigend, wie ich hoffe. „Alles in Ordnung. Es ist nur etwas stressig für mich, wieder hier zu sein. Und diese ganzen Formalitäten..." Er nickt langsam, nicht ganz überzeugt.
„Das mit der Anrede habe ich, glaube ich, verstanden, aber was ist der Südflügel und warum wollen Sie dort nicht untergebracht werden?" Innerlich fluche ich. Offenbar hat Orland die Diskussion doch aufmerksamer verfolgt, als gedacht.
Ich gebe keine Antwort, doch leider fällt mir Lucinda in ihrer Pflicht als Angestellte des Palastes in den Rücken. „Im Südflügel sind die Gemächer der Königsfamilie, Durchlaucht."
Orland blickt von mir zu ihr und wieder zurück. Ich suche nach Worten und füge schließlich hinzu: „Und sie sind unglaublich weit vom Nordflügel entfernt. Die Wege im Palast sind ein Alptraum. Ich wollte so nah wie möglich bei Annalies sein, zu ihrer Unterstützung."
Zum Glück scheint ihm das einzuleuchten.
Ich atme tief durch. Kaum eine Viertelstunde hier und schon ist das gesamte Unterfangen ein Desaster. Und das auf völlig andere Weise, als gedacht. Niemand verachtet mich. Niemand sieht mich als Verurteilte, Verbannte, Ausgestoßene. Nein, stattdessen werde ich behandelt wie die Schwester der Königin, als wäre ich in dieser Stellung bei Hofe legitimiert. Ich werde angeredet als Edle Dame, man will mich bei meiner Familie im Südflügel unterbringen und am liebsten noch als Schwester der Königin ausrufen lassen. Das alles habe ich absolut nicht erwartet. Und genauer betrachtet, ist dieses Entgegenkommen noch viel schlimmer, als eine Ablehnung es wäre. Denn wie, um Himmels Willen, soll ich jetzt noch vor Orland geheim halten, wer ich bin?
Es wird Zeit, dass ich mir Gedanken über meine Zukunft mache. Denn sobald er von meiner Vergangenheit weiß, wird er mich nicht mehr in die Nähe von Annalies lassen. Und er wird es herausfinden. Eher früher als später.

Die GouvernanteWhere stories live. Discover now