Kapitel 24 - Esther

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Die Abendgesellschaft am Samstag vor dem zweiten Advent ist schon in vollem Gange, als wir eintreffen. Wir werden freundlich von der Gastgeberin und ihrem fülligen Ehemann begrüßt und ich kann nicht umhin, ein wenig stolz zu sein angesichts der überraschten Reaktion von Frau Karden, als Annalies höflich und ungezwungen das Ambiente lobt und sich ganz reizend nach der Gesundheit des Ehepaars erkundigt.

Auch Orland nickt mir anerkennend zu. Dieses Lob lässt mich leicht erröten, aber nicht nur deshalb bin ich absolut zufrieden mit mir. Hier, in dieser Situation, zeigt sich erstmalig, dass ich etwas Sinnvolles geleistet habe. Ich habe ein vernachlässigtes, unsicheres sechzehnjähriges Mädchen dem Ideal einer perfekten Dame ziemlich nahegebracht und sehe nun, wie sie davon profitiert. Und diese Erfahrung der Selbstachtung ist mir mehr wert als das Geld, das ich als Gouvernante verdiene oder all die Aufmerksamkeit, die ich im Palast von Calia bekommen habe.

Die nächsten Gäste treffen ein, weshalb wir aus den Fängen der Kardens entlassen werden und weiter in den nächsten Raum vordringen. Orland begrüßt die wichtigen Herren in der Runde, so wie es von ihm erwartet wird und Annalies und ich lassen uns etwas abseits auf einem Sofa nieder und nehmen ein Getränk entgegen, das uns gereicht wird. Natürlich achte ich darauf, dass es keinen Alkohol enthält.

„Das hast du sehr gut gemacht", lobe ich meinen Schützling und sie lächelt freudig. „Ich habe mir auch sehr viel Mühe gegeben, Fräulein. Haben Sie gesehen, wie dämlich Frau Karden geschaut hat, als ich mich wie eine junge Dame verhalten habe? Sie war sonst immer die erste, die auf mich geschimpft hat und musste ihren eitlen Sohn sofort auf andere Mädchen aufmerksam machen, wenn ich in der Nähe war, damit er ja keinen Blick an mich verschwendet."

Ich räuspere mich. „Mach deinen Eindruck nicht wieder kaputt, Annalies. Du bist ständig unter Beobachtung und solltest weder so abwertend noch so laut reden, wie du es tust." Mittlerweile fällt es mir überhaupt nicht mehr schwer, streng mit ihr zu sein. Denn ich weiß, dass sie sich meine Zurechtweisungen weniger zu Herzen nimmt, als sie sollte. Doch so kontrolliert ich mich auch nach außen gebe, so sehr muss ich im Inneren lächeln. Ich kann sie ja so gut verstehen!

Es ist unglaublich, was sich gewandelt hat, seit ich als Gouvernante arbeite. Annalies ist schon lange nicht mehr das schüchterne Mädchen, das sich unter den Blicken der Menschen geduckt hat. Es ist beachtlich, was Bildung und Zuwendung alles bewirken können.

Eine Weile beobachten wir nur schweigend die tanzenden und schnatternden Menschen und nippen ab und zu an unseren Getränken, bis mein Blick auf einen jungen Mann fällt, der uns ausführlich mustert und dabei immer wieder an den Ärmeln seiner silbergrauen Jacke zupft. Er kommt mir bekannt vor. Frau Karden steht bei ihm und redet wild gestikulierend auf ihn ein.

„Der junge Mann dort", ich deute mit dem Kopf auf ihn, „ich kenne ihn, oder?", frage ich Annalies. Sie folgt meinem Wink mit den Augen und verzieht verächtlich den Mund, als sie ihn sieht. „Das ist Richard Karden, ältester Sprössling der Kardens, Snob und Erbe. Ich mag ihn nicht. Er dreht sein Fähnchen nach den Eltern und hält sich für wichtiger, als er ist. Viele Mädchen schwärmen für ihn, weil er Geld hat, aber nichts davon erarbeitet er sich selbst. Er ist einfach nur faul und überheblich." Ich unterbreche sie mit einem leichten Hüsteln, da unser Beobachtungsobjekt sich soeben auf uns zu bewegt, aber ich erinnere mich nun wieder an ihn. Er ist derjenige, der Annalies auf dem Markt verspottet hat und dem ich den Kopf zurechtrücken musste.

Annalies bemerkt ihn ebenfalls, denn sie runzelt wenig erfreut ihre Stirn. „Kommt er jetzt her?", fragt sie unwirsch. Ich setze ein falsches Lächeln auf. „Wie du siehst. Er ist der Sohn der Gastgeber, was bedeutet das also für den Umgang mit ihm?" Sie seufzt. „Freundlich und zuvorkommend, keine spitzen Kommentare, er soll mir gewogen bleiben. Zur Begrüßung neige ich den Kopf und erhebe mich, da er unter mir steht, muss ich nicht knicksen. Wenn er mich zum Tanz auffordert, auf jeden Fall annehmen." Ich merke, wie ihr die ganze Situation zuwider ist und auch ich würde seinen dicken Schildkrötenhals lieber am anderen Ende des Raumes sehen. Aber zu Annalies nicke ich als Bestätigung und hoffe, dass sie alles ganz genau so umsetzen wird, wie sie es mir eben missmutig heruntergeleiert hat. Zu Lernen ist oft einfacher, als in einer bestimmten Konstellation Anstand und Beherrschung zu bewahren.

Die GouvernanteWhere stories live. Discover now