Kapitel 28 - Orland

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Noch lange Zeit, nachdem Esther gegangen ist, hängt unsere hitzige Debatte in der Luft. Ich suche den Punkt, an dem dieses ganze Thema so hochgekocht ist. Was hat mich eigentlich so gestört?
Dass Annalies ihren eigenen Weg suchen möchte? Dass ich wieder einmal verpasst habe, was meiner Nichte wirklich wichtig ist? Dass ich von Esthers Argumentation überfordert war? Ich weiß es nicht.
Ich weiß nur – und das ist mir aufgefallen, als ich unser Gespräch rekapituliert habe – dass ich ungerecht zu ihr gewesen bin. Wie oft habe ich sie an einen Platz verwiesen, der gar nicht existiert? Und der genau deshalb nicht existiert, weil ich Esther so nah wie möglich bei mir haben möchte. Ich habe mich schäbig benommen.
Ich vergrabe mein Gesicht in den Händen und raufe mir das Haar. Es ist furchtbar, mit jemandem zu streiten, den man liebt. Und ich habe die Angst, dass sie mir meine Worte nicht verzeihen wird.
Auf ein leises Klopfen hin hebe ich den Kopf. Ernst steht in der Tür und räuspert sich verlegen.
„Ich hoffe, Ihre Argumentationen sind zu einem guten Ende gekommen, Durchlaucht", ist er so freundlich, sich zu erkundigen. Ich muss mir ein Seufzen verkneifen. Sicherlich hat man Esthers und mein Geschrei durch das ganze Haus gehört. „Danke, Ernst", erwidere ich, „wir sind auf einem guten Weg, wage ich zu behaupten." Mein Butler nickt.
„Freut mich zu hören. Weshalb ich hier bin: Herr Edwin Karden wünscht ein Gespräch mit Ihnen." Ich stöhne. Damit hätte ich rechnen müssen. Einen Moment lang spiele ich mit dem Gedanken, den Besucher auf eine andere Zeit zu vertrösten, doch früher oder später muss ich mich diesem Problem ohnehin stellen.
„Schick ihn herein", weise ich also an und kurz darauf betritt Herr Karden mit säuerlicher Miene mein Arbeitszimmer. Ich nicke ihm freundlich zu und biete ihm etwas zu trinken an, aber er kommt ohne Umschweife zur Sache.
„Ihr Mündel hält sich offenbar für etwas Besseres. Diese unehelich gezeugte Göre verspottet meinen Sohn, der aufrichtig seine Absichten erklärt, sie zu ehelichen, durch eine schnöde Zurückweisung. Wie rechtfertigen Sie dieses Verhalten hier in Ihrem Haus?"
Ich lehne mich in meinem Stuhl zurück. „Zunächst möchte ich Ihnen dazu raten, die Baroness nicht zu beleidigen, auch wenn ich Ihre Rage nachvollziehen kann. Doch Sie werden auf eine Rechtfertigung meinerseits verzichten müssen, sollten Ihre Worte dergestalt sein, dass sie genug als Rechtfertigung dienen."
Edwin Karden atmet aufgebracht ein und seine Nasenflügel blähen sich angriffslustig. „Wir haben viele dieser negativen Entwicklungen toleriert, die in letzter Zeit hier Einzug gehalten haben. Wir haben uns um eine gute Nachbarschaft bemüht, wir haben Ihrer Baroness Zutritt zu unserem Haus gewährt und wir haben mit angesehen, wie Ihre Gouvernante sich Dinge herausnimmt, welche die Befugnisse einer Angestellten weit überschreiten. Aber irgendwann ist das Maß voll! Und heute ist es das. Mein Sohn wird Wochen brauchen, um sich von dieser Kränkung zu erholen. Er wird verspottet werden, weil nicht einmal so jemand wie Ihr Mündel einwilligt, ihn zu heiraten."
Ich verschränke die Hände auf der Schreibtischplatte. Spätestens jetzt wäre mir aufgegangen, warum Annalies nicht hat heiraten wollen. Wenn der Vater schon so spricht, wie dann erst der Sohn? In mir kommt die Erinnerung hoch, wie Edwin Karden eine Verminderung der Pacht fordert, weil ich meine Nichte bei mir aufnehme. Ich erinnere mich an die verachtenden Blicke, denen sie am Anfang ausgesetzt war, ehe Esther die Menschen zum Verstummen brachte.
Esther. Mir fällt wie Schuppen von den Augen, dass sie Recht hat. Und nicht nur das. Mir fällt auf, dass, egal was meine Meinung ist, ich vor allem hätte meine Nichte unterstützen müssen.
„Wie genau definieren Sie so jemand wie mein Mündel", frage ich gefährlich leise. „Unehelich? Vernachlässigt? Ohne gute Herkunft? Ich halte weder Sie noch Ihren Sohn für selbstlos, Herr Karden. Deshalb lassen Sie mich spekulieren, als was Sie Annalies vor dem Antrag Ihres Sohnes definiert haben: Intelligent, wohlerzogen, elegant, eine Frau mit Titel, Vermögen und womöglich einem großen Erbe. Muss ich wirklich rechtfertigen, warum solch eine Frau Ihren Sohn nicht heiraten will, von dem sie lange genug schikaniert worden ist? Und was Esther Griffel, die Gouvernante meiner Nichte, angeht, so untersage ich Ihnen, ein Urteil darüber zu fällen, welche Befugnisse sie hat und welche nicht. Denn was in meinem Haushalt geschieht, ist allein meine Sache."
Edwin Karden schnaubt. „Ja, in Ihrem Haus ist es Ihre Sache. Aber die Selbstüberschätzung dieser Frau beschränkt sich nicht auf Ihr Haus, Durchlaucht. Diese Person schreitet durch das Dorf wie eine Königin, sie hat sich angemaßt, die Tanzfläche mit den guten Bürgern Graras zu teilen. Und, mit Verlaub, sie hat Ihnen die Sicht auf die wichtigen Dinge des Lebens verstellt. Ist es als Vormund nicht Ihre Pflicht, Ihre Nichte in eine gute, sichere Ehe zu geben? Stattdessen lassen Sie zu, dass diese Angestellte ihren Einfluss auf die Baroness geltend macht. Geben Sie es zu, Sie hatten doch in dieser Angelegenheit sicher nichts beizutragen. Ich bin seit langer Zeit Ihr Pächter und Sie wissen um die Beständigkeit und Zuverlässigkeit meiner Familie. Sie hätten Ihrer Nichte sicherlich zu einer Verbindung geraten."
Ich richte mich, wenn möglich, noch ein bisschen mehr in meinem Stuhl auf. „Es ist nicht Ihr Belang, wie wir familieninterne Themen diskutieren. Sie würden gut daran tun, die Entscheidung meiner Nichte zu akzeptieren und mit Ihrem unmöglichen Verhalten nicht das Wohlwollen zu gefährden, das ich Ihrer Familie und Ihrem Geschäft bisher entgegengebracht habe."
Herr Karden denkt gar nicht daran, irgendetwas zu akzeptieren. Anklagend zeigt er mit dem Finger auf mich.
„Sie sind eine schwache Person, Durchlaucht, denn Sie drehen Ihr Fähnchen nach den Frauen um Sie herum. Ihre unsägliche Schwester schiebt ihr Balg auf Sie ab und sie nehmen dieses unerzogene Gör auch noch auf und überhäufen sie mit Gefälligkeiten. Eine manipulative Frau, von der niemand weiß, woher sie eigentlich kommt, fällt in Ihren Haushalt ein und lenkt nicht nur Ihre Nichte, sondern auch Ihren Willen. Wohin soll das noch führen?! Es fehlt nur noch, dass Sie diese Angestellte heiraten und einen Erben mit ihr zeugen!"
Ich springe erbost auf. „Raus!", brülle ich. „Machen Sie, dass Sie fortkommen! Sie haben die Person meiner Gouvernante beleidigt, meiner Nichte und meiner selbst. Wenn Sie nicht sofort dieses Haus verlassen, dann schwöre ich, konsultiere ich noch in dieser Woche meinen Anwalt und suche nach einem Weg, Ihnen die Pacht zu entziehen. Ich habe es leid, mich mit snobistischen, selbstüberschätzenden Menschen zu umgeben, die sich für die Elite der Gesellschaft halten und dabei nichts mehr zustande bringen, als sich ihren fetten Hintern auf ihren angehäuften Besitztümern breit zu sitzen. Wagen Sie es nie wieder, so mit mir zu sprechen, nie wieder!"
Edwin Karden ist bleich geworden und stolpert fast aus dem Arbeitszimmer hinaus. Ich atme tief durch und renne auf und ab, um mich zu beruhigen.
Warum ist diese Situation nur so vertrackt? Sollte nicht alles einfacher werden, wenn Annalies ausgebildet wird und Anerkennung durch die Bürger dieser Baronie erfährt? Ich habe das Gefühl, als würde alles nur komplizierter werden.
Das erste Mal kann ich mir vorstellen, was Esther meint, wenn sie so negativ von ihrer Zeit als Hofdame spricht. Wieviel schwieriger muss es sein, als Frau eine solch öffentlichkeitswirksame Stellung inne zu haben?
Doch ist es dann die richtige Zukunft für Annalies? Was ist, wenn meine Nichte daran zugrunde geht?
Ich trete ans Fenster und blicke hinaus. Vielleicht muss ich ihr einfach vertrauen. Esther legt sich nie mit mir an, ohne einen triftigen Grund. Vielleicht würde es Annalies gut tun, abseits dieser immer noch bestehenden Vorurteile zu leben.
Es klopft und Ernst tritt erneut ein. „Verzeihung, Durchlaucht, ich wollte nur wissen, ob Sie etwas brauchen." Ich schüttele den Kopf. „Nein danke, Ernst. Höchstens vielleicht Ihre Meinung, ob ich zu ausfällig geworden bin."
Auf das Gesicht meines Bediensteten tritt ein leichtes Lächeln, das ich äußerst selten zu sehen bekomme.
„Keineswegs, Durchlaucht. Wir alle mögen die Baroness sehr gerne. Und auch Fräulein Griffel. Sie haben genau richtig reagiert. Und, mit Verlaub, der Teil mit den fetten Hintern auf angehäuften Besitztümern hat mir am besten gefallen."
Er verneigt sich galant und lässt mich dann alleine. Und urplötzlich tritt ein breites Lächeln auf meine Lippen. Ja, Edwin Karden habe ich es gezeigt.

Die GouvernanteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt