Kapitel 14 - Esther

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„Und gleich noch einmal, Annalies", weise ich die Baroness an, die unzufrieden ihr Buch aufhebt, es sich auf den Kopf legt und in ihrem Zimmer auf und ab schreitet. Zumindest sollte sie schreiten, doch ihre Fortbewegung kommt mehr einem Schlurfen gleich.

„Und der Knicks", erinnere ich sie. Sie beugt wenig elegant ihre Knie, das Buch gerät ins Rutschen und landet zum wiederholten Mal mit einem lauten Klatschen auf dem Boden.

„Das ist doch furchtbarer Mist!", schimpft Annalies und ihre Unterlippe zittert verdächtig. „Ich bin einfach zu nichts zu gebrauchen."

Besorgt sehe ich sie an. „In Ordnung, Annalies, leg das Buch für eine Weile weg und setz dich zu mir." Wie ein Häufchen Elend schleppt die Baroness sich in die Sitzecke und lässt sich in ihren Sessel fallen. Angestrengt starrt sie auf ihre Hände, um mich nicht ansehen zu müssen.

„Also, möchtest du mir nicht sagen, was los ist?" Einen Moment lang kann ich beobachten, wie sich Widerstand in ihr aufbaut, doch offenbar ist ihre innere Last zu groß und sie platzt heraus: „Nichts will klappen, Fräulein. Ich bin einfach furchtbar schlecht in allem. Ich kann nicht gerade laufen und ich kann keinen Knicks und ich werde auch niemals eine elegante Baroness sein." Ich verschränke die Arme vor der Brust. „Und wer hat das gesagt?"

Sie beißt sich auf die Lippe, wie immer, wenn sie etwas beschäftigt. Ich seufze. „Annalies, die einzige Person, die dein Können und deinen Fortschritt beurteilen kann, bin ich. Und ich habe so etwas niemals gesagt."

Ihre Unterlippe fängt erneut an zu zittern und ich sehe, wie die erste Träne ihre Wange hinunterkullert. „Nein, das haben Sie nicht. Aber Onkel Orland denkt es."

Eine Welle an Mitleid überkommt mich und ich erhebe mich, um sie in den Arm zu nehmen. Das ist aber auch ein wirklich schwieriges Verhältnis zwischen den beiden. Annalies bedeutet ihr Onkel etwas und für Baron von Mailinger ist seine Nichte wichtig. Doch der Baron stellt sich zwischenmenschlich einfach nur stümperhaft an und Annalies sieht in ihrem sanften Wesen alles als ihre Schuld.

Die Baroness schluchzt. „S-Sie haben g-gesagt, dass ich ihm wichtig bin. U-und ich habe gedacht, dass es stimmt. Ich habe so schöne Kleider b-bestellen dürfen, aber", sie schnieft, „aber ich bedeute ihm ja doch nichts." Ich streiche Annalies übers Haar.

„Das ist nicht wahr. Weißt du, es gibt diese Menschen auf der Erde, die einfach ziemlich schwierig sind. Die brillantesten Köpfe sind ganz hilflos in Bezug auf andere Menschen, so heißt es. Und ich glaube, dein Onkel ist schon ziemlich schlau..." Annalies schluchzt nur noch mehr. Also greife ich auf etwas zurück, was eigentlich immer hilft: Geschichten vom calischen Hof.

„Weißt du, ich habe König Titus persönlich kennengelernt. Er war ein ganz schrecklicher Bursche und alle dachten, er wäre gemein und innerlich ganz böse", gebe ich übertrieben und platt eine Geschichte zum Besten, die ich selber immer noch nicht ganz verarbeitet habe. Aber für Annalies würde ich alles Erdenkliche erzählen.

Und tatsächlich wird ihr Schniefen etwas leiser und sie lauscht gebannt.

„Alle waren gegen ihn", fahre ich fort. „Nicht mal sein eigener Onkel hatte noch Vertrauen in ihn, obwohl die beiden sich mal sehr gut verstanden hatten."

Ich mach eine Kunstpause und Annalies fragt neugierig: „Und dann?" Ich muss mir ein Lächeln verkneifen. „Dann hat er eine Dame kennengelernt. Sie hat herausgefunden, warum die Leute dachten, was sie denken, sie hat erfahren, was sein Problem ist und sie hat ihm geholfen, es zu lösen. Und weißt du, wer diese Frau jetzt ist?" Annalies schüttelt den Kopf. „Heute ist sie die Königin von Calia."

Ich reiche Annalies ein Stofftaschentuch und sie trocknet sich die Augen. „Weißt du, was ich dir mit dieser Geschichte sagen möchte?", frage ich. Annalies überlegt nicht lange.

„Onkel Orland braucht eine Frau", sagt sie bestimmt und ich pruste los. Nach einer Weile stimmt sie in mein Lachen mit ein. Doch ich sehe, dass ihr Kummer noch nicht ganz verflogen ist.

Ich streiche ihr erneut übers Haar. „Zweifellos braucht dein Onkel auch eine Frau. Aber was ich meinte ist, dass Menschen oft anders scheinen, als sie sind. Sie verhalten sich abweisend, weil sie tief drinnen etwas beschäftigt. Und ich glaube, dass dein Onkel auch irgendetwas im Kopf hat. Und dabei vergisst er manchmal, dir zu zeigen, dass du ihm wichtig bist."

Annalies schnieft wieder. „Wissen Sie, Fräulein, gestern hat er das Abendessen abgesagt und ich saß allein im Speisesaal. Und beim Frühstück hat er nicht einmal einen guten Morgen gewünscht. Und wenn wir zum Spaziergang die Treppe runterkommen, verschwindet er schnell in seinem Arbeitszimmer, damit er mich nicht sehen muss. Oder wissen Sie, vor zwei Tagen, als wir im Garten waren, weil das Wetter nicht so kalt war, und er hinausgekommen ist? Als er mich gesehen hat, ist er sofort wieder hineingegangen."

Ich versuche, sie zu beruhigen, indem ich halbherzige Ausflüchte für diesen Rabenonkel finde, doch innerlich kann ich Annalies nicht widersprechen. Auch ich habe gemerkt, dass Orland von Mailinger sich sehr merkwürdig verhält. Gut, er benimmt sich immer merkwürdig. Doch anfangs war es eher eine unfreundliche Art. Die letzten Tage jedoch scheint er geradezu Reißaus zu nehmen, wenn wir in seine Nähe kommen. Es passt nicht in das Bild des Mannes, der immer auf Konfrontation geht, wenn er sich angegriffen fühlt. Und ich kann Annalies verstehen, dass sie dieser Wandel beschäftigt. Ein unfreundlicher Onkel ist schwierig genug, doch was soll man von einem Onkel halten, den man nie zu Gesicht bekommt?

In mir baut sich Wut auf. Ich habe gemerkt, wie sehr er sie vernachlässigt. Und ich hatte vor, mit ihm darüber zu reden. Zweifellos haben wir ein schwieriges Verhältnis, doch ich hatte die letzten Tage fest vor, meine Vorbehalte beiseite zu schieben und das Beste für meinen Schützling zu erwirken. Und das bedeutet, ihm Ratschläge zu geben, kompromissbereit zu sein und mich von seiner Unfreundlichkeit nicht beleidigen zu lassen. Doch zu all dem ist es nicht gekommen, weil der Baron es vorgezogen hat, den Tag über bis spät abends außer Haus zu verbringen.

Bisher schien es mir unangebracht, bis spät in die Nacht auf ihn zu warten, um mit ihm zu reden. Schließlich bin ich eigentlich nicht in der Position, ihm Vorschriften zu machen. Ich bin in seinem Haus, ich bin von ihm angestellt, ich darf mir kein Urteil darüber erlauben, ob sein Handeln richtig oder falsch ist.

Der Wunsch, alles besser, alles gerecht zu machen, hat mir schon einmal das Genick gebrochen. Ich dachte, ich wäre in der Lage, über Schuld und Unschuld zu urteilen und bin in eine Intrige geraten, die zum Tod eines Menschen hätte führen können.

Doch das hier ist anders, rede ich mir ein. Hier geht es nicht um Tod oder Leben. Hier geht es um Anstand und Zuwendung. Um Familie. Um Annalies, auf die ich aufpassen möchte.

Ich überlege mir, was Martha wohl tun würde. Sie würde nicht zulassen, dass ihr Schützling unglücklich wird. Sie würde sich nicht um Etikette scheren. Sie würde sich so verhalten, wie niemand es von ihr erwartet.

Vermutlich würde sie sich nachts heimlich in sein Arbeitszimmer schleichen, sich in einer dunklen Ecke positionieren und ihn furchtbar erschrecken, wenn er nach einem langen Tag dorthin kommt, um seine Unterlagen zu sortieren. Sie würde ihn gehörig zur Rede stellen, alle möglichen und unmöglichen Begründungen für sein Verhalten an den Kopf werfen, damit er sich rechtfertigen muss. Sie würde ihn dazu bringen, dass er einknickt und sein Problem offenlegt und dann würde sie ihm, sanft wie ein Lamm, das Gefühl geben, dass alles gut werden kann. Und sie würde ihm helfen, sein Problem zu lösen.

Ich muss lächeln. Doch so etwas kann nur Martha tun. Martha ist stark, sie hat weniger Hemmungen, sie hat ein Gefühl dafür, was richtig ist und was falsch.

Ich blicke zu Annalies, die sich von selbst das Buch geschnappt hat und nun viel eleganter als vorhin auf und ab geht. Woher hat Martha gewusst, dass ich ihre Empfehlung brauchen würde? Woher hat sie gewusst, dass ich sie nicht missbrauchen würde?

In gewisser Weise hat sie damit eine Grauzone betreten. Ich bin mir nicht sicher, ob es rechtlich sauber ist, einer Verurteilten ein amtliches, königliches Schriftstück mit auf den Weg zu geben. Genauer betrachtet ist das auch eine ihrer verrückten Ideen. Als hätte sie sich gedacht, dass ich eines Tages hier stehen würde, bereit, für ein Mädchen zu kämpfen, das die uneheliche Tochter eines Dienstboten ist.

In mir formt sich ein Entschluss. Ich bin unfähig gewesen, für die Gerechtigkeit zu kämpfen. Aber ich sehe es als meine Aufgabe, für eine Familie zu kämpfen. Und wenn das bedeutet, im Dunkeln in ein fremdes Arbeitszimmer zu schleichen, dann sei es so.

Die GouvernanteWhere stories live. Discover now