Kapitel 6 - Esther

846 71 8
                                    

Ich betrachte die Auslagen auf dem Markt. Hier könnte ich wirklich alles finden: Schmuck, Töpferwaren, kleine Naschereien, Blumen und Stoffe, Kerzen, Leuchter und vieles mehr. Obwohl Grara so klein ist, zeugt der Marktplatz zu dieser Zeit von der Vielfalt dieser Gegend und der Menschen hier. Es tut mir gut, diese kunstfertigen und bunten Dinge zu sehen, statt im Gasthaus in meinem Zimmer zu hocken und nichts zu tun. Und ich versuche mich immer noch, zwei Tage später, von dieser unbändigen Wut zu befreien, die mich immer ergreift, wenn ich an diesen Baron von Mailinger denke.

Ich greife nach einem Briefbeschwerer aus Messing. Er besitzt die Gestalt eines Hundes und erinnert mich an jenen im Arbeitszimmer des calischen Königs. Eventus hat mich oft genug dorthin kommen lassen. Damals war ich stolz darüber, jetzt verfolgt mich diese Erinnerung. Ich seufze. Es gibt keinen Tag, an dem ich mir nicht wünsche, dass die Vergangenheit anders verlaufen wäre.

Ich schlendere ein paar Stände weiter. Zu meiner Zeit als Hofdame hätte ich mir hier und da eine Kleinigkeit gekauft. Doch zurzeit habe ich gerade genug Geld in der Tasche, um mir das zu besorgen, was nötig ist. Zumindest so lange, bis ich eine neue Idee für eine Arbeit habe, die ich antreten könnte, bin ich gezwungen, noch stärker als vorher zu sparen. In mir macht sich ein Gefühl von Wehmut breit. Die Stelle als Gouvernante wäre perfekt gewesen. Gute Bezahlung, die Erfordernis genau der Kenntnisse, die ich mitbringe, und natürlich dieses gewisse Maß an Herausforderung, das mich reizt.

Innerlich schüttele ich über mich den Kopf. Unsinn! Vielleicht wäre es perfekt gewesen, eine junge Frau zu unterrichten. Aber sicherlich kann ich einen weitaus freundlicheren und passenderen Patron finden, als diesen arroganten Baron von Mailinger!

Ich begutachte einen Stand mit Schneiderkurzwaren. Die Kleidung, welche ich aus Calia mitgenommen habe, ist vergleichsweise robust gewesen. Dennoch sind die zarten Stoffe nicht für ein Leben in einem Gasthaus gemacht, in dem die Wände nur schlampig verputzt sind und kleine Haken und Holzsplitter die Röcke aufreiben und fadenscheinig werden lassen. Die Frau am Stand zeigt mir ihre Auslage und ich entscheide mich für zwei Rollen Garn in Weiß und in Blau, sowie eine zarte Nadel, die hoffentlich zum Flicken taugt. Einen tieferen Blick in meinen Geldbeutel versage ich mir. Ich brauche wirklich dringend eine Arbeit, bei der ich nicht all meine restliche Würde verliere.

Gedankenverloren wende ich mich ab und stoße prompt mit jemandem zusammen. Ich blicke entschuldigend auf. „Verzeihung, das war keine Absicht", beeile ich mich zu sagen. Dann erst nehme ich die Person wahr, die ich angerempelt habe. Es ist ein junges Mädchen, vielleicht fünfzehn, etwas blass, aber durchaus hübsch. Es blickt zu Boden und krallt sich mit verkrampften Händen in ihr Kleid, das nicht so ganz zu ihr zu passen scheint.

„Fräulein, ist alles in Ordnung? Es tut mir leid, ich habe Sie nicht gesehen. Tut Ihnen etwas weh?" Ich fühle mich ein wenig hilflos. Ich habe noch nie erlebt, dass eine junge Frau so verschlossen ist. Endlich hebt sie den Blick. Ich sehe Unsicherheit in ihren Augen, Angst – wovor auch immer, und Demütigung. Ich will noch einmal nachfragen, ob es ihr gut geht, da atmet sie tief durch und verzieht urplötzlich das Gesicht zu einer verächtlichen Mimik. Stammelnd und verletzt stößt sie hervor: „Ja, natürlich! Es ist doch nie Absicht! Wer käme schon auf die Idee, mich absichtlich anzurempeln!"

Ihre Unterlippe fängt an zu zittern. Sie rafft ihre Röcke und rauscht weiter. Ich bin einen Moment so perplex, dass ich gar nicht weiß, was ich tun soll. Dieses Mädchen ist unfreundlich gewesen, aber vor allem verängstigt. Ich habe gemerkt, wie viel Überwindung es sie gekostet hat, so mit mir zu reden. Und ich frage mich, was vorgefallen ist, dass das Fass bei ihr so zum Überlaufen gebracht wird. Ich lasse die Marktstände links liegen und eile dem Mädchen hinterher. Wer auch immer sie ist, sie kann offenbar ein wenig Zuspruch gebrauchen. Oder ein paar Manieren. Ich folge ihr zwischen den Marktbuden hindurch und bin einmal mehr froh über meine langen Beine, mit der ich sie zügig einhole.

Die GouvernanteWhere stories live. Discover now