Kapitel 39 - Orland

841 71 8
                                    

Ich starre Esther und die Königin abwechselnd an. Fassungslos. Natürlich, jetzt wo ich es weiß, sehe ich die Ähnlichkeiten. Das gleiche braune, kräftige Haar, eine gerade Nase, eine schlanke Figur. Doch Esther ist größer und hat dunkle Augen. Die ihrer Schwester sind blau. Esthers Schönheit ist augenfälliger und reiner. Die Königin hat etwas Freies, Widerspenstiges an sich.
„Sie sind die Schwester der Königin?!", ruft Annalies verblüfft und dieses Mal kann ich ihr die mangelnde Zurückhaltung wirklich nicht verübeln. Ich bin ja selber geschockt. Esther stürzt nun auch mein Weinglas in einem Zug hinunter und nutzt die Gelegenheit eines vorbei eilenden Pagen, um sich Nachschub zu besorgen. Dieses Mal ist es ein Perlwein. Ich mache mir nun ernsthaft Sorgen um sie und überlege, ob ich ihr den Alkohol entwenden soll. Es passt gar nicht zu ihr, so vollkommen die Kontrolle und die Fassung zu verlieren. Diese ganze Sache nimmt sie ziemlich mit. Doch ich verstehe nicht, wieso. Müsste es sie nicht freuen, wieder bei ihrer Familie zu sein? Warum hat sie sich die ganze Zeit so gegen diese Reise und gegen diesen Abend gesperrt?
„Ja, Esther ist meine Schwester", bestätigt die Königin das Gesagte. Dabei lächelt sie. „Aber sie kann nicht wirklich etwas dafür. Schließlich war ich noch nicht immer Königin. Aber der König hat schon immer bekommen, was er wollte."
Annalies sieht ernsthaft verdattert aus. „Aber warum sind Sie dann meine Gouvernante geworden, Fräulein? Sie hätten doch gar nicht arbeiten müssen. Und warum haben Sie nie etwas gesagt? Haben Sie mir nicht vertraut?"
Ich sehe die Enttäuschung im Gesicht meiner Nichte. Esther und die Königin versuchen gleichermaßen, beschwichtigende Worte zu finden. Der Königin gelingt dies etwas besser, da Annalies' Gouvernante durch ihren Alkoholpegel in einige Schwierigkeiten kommt, ihre Gedanken zu ordnen.
In meinem Kopf wirbeln ähnliche Fragen umher. Esther hat sich, gerade am Anfang, so viel von mir gefallen lassen. Ich habe sie bei unserem ersten Treffen abscheulich behandelt, auch die Zeit danach nicht wirklich besser. Ich habe lange Zeit nicht schätzen können, was sie tut und hielt mich für überlegen und sie lediglich für eine Frau, die mich fasziniert. Das alles hätte ich mich nicht getraut, wenn ich gewusst hätte, dass ihre Schwester die calische Königin ist. Natürlich wirft dieser Gedanke kein gutes Licht auf mich, denn normalerweise hätte ich mich jeder Dame gegenüber tadellos verhalten müssen.
Doch sie hat nie ausgenutzt, wer sie ist. Sie hat sich von Seraphina sogar als meine Bettgesellin betiteln lassen, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich bezweifle, dass es eine andere Person mit ihrem Rang auf dieser Welt gibt, die sich das gleiche gefallen gelassen hätte.
Ich bin so versunken in meine Überlegungen, dass ich erst merke, dass die Königin mich angesprochen hat, als Annalies mich anstupst. „Entschuldigen Sie meine Abwesenheit", sage ich peinlich berührt. Königin Martha lächelt nachsichtig.
„Durchlaucht, ich hatte darauf gehofft, Ihnen Ihre Nichte entführen zu dürfen und unserer Hofdame vorstellen zu können. Lanette ist überaus liebenswürdig und die beiden werden sich sicher gut verstehen. So haben Sie und meine Schwester die Gelegenheit, sich ungestört zu unterhalten." Sie wandert mit dem Blick von mir zu Esther und wieder zurück. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass sie durchschaut, was Esther mir bedeutet.
Ich nicke dankbar. Diesen Moment kann ich wirklich für uns gebrauchen. Esther und ich haben einiges zu klären.
Annalies wuselt glücklich mit der Königin davon und ich nehme kurzerhand das Glas aus Esthers Hand, in dem sich bereits auch nur noch ein Rest befindet. Sie will protestieren, doch gerät dabei leicht ins Schwanken. Ich stabilisiere sie, indem ich meinen Arm um ihre Taille lege.
„Es sieht so aus, als müssten Sie mal an die frische Luft", stelle ich fest und tausche bei nächster Gelegenheit das Sektglas gegen ein Glas Wasser.
Darauf bedacht, Esther aufrecht zu halten und dabei nichts von dem Getränk zu verschütten, bahne ich uns einen Weg zur geöffneten Terrassentür. Glücklicherweise schenkt uns niemand sonderliche Beachtung. Im Gegenteil, Esther scheint nicht die einzige zu sein, die zu dieser Stunde schon zu tief ins Glas geschaut hat.
Endlich treten wir hinaus in die kühle Nachtluft. Ich führe sie etwas weiter in den dunklen Schlosspark. Sie torkelt schon leicht, sodass es lange dauert, bis wir an einer Stelle sind, wo niemand mehr in der Nähe ist. Sie lässt sich in ihrem teuren Kleid auf die Wiese fallen und schließt die Augen. Ich hocke mich neben sie und rüttele sie an der Schulter.
„Wehe, Sie schlafen jetzt ein." Seufzend öffnet Esther die Augen. „Aber es ist dunkel, Orland." Sie klingt fast wie ein maulendes Kind. Ich muss lächeln. Eigentlich müsste ich ihr böse sein. Sie hätte mir erzählen müssen, wer sie ist. Spätestens, als wir anfingen, uns näherzukommen. Doch ich kann sie nicht verurteilen. Sie ist so hinreißend.
„Wie viele Gläser Wein haben Sie getrunken?" „Nur vier", murmelt sie. Ich schüttele den Kopf und drücke ihr das Wasser in die Hand. Sie nippt vorsichtig daran.
„Trotzdem dürfen Sie nicht einschlafen", beschwöre ich sie. „Sonst muss ich Sie zurücktragen." Esther zuckt mit den Schultern. „Das schaffen Sie nie mit diesem zentnerschweren Kleid."
Sie richtet sich in ihrer sitzenden Position ein wenig mehr auf und blickt mich einigermaßen klar an. „Ich hatte fast vergessen, was für eine Folter so ein Kleid sein kann." Eine verirrte Haarsträhne fällt ihr ins Gesicht. Ich kann nicht widerstehen und streiche sie sanft hinter ihr Ohr. Ich weiß, dass ich diese Situation nicht ausnutzen sollte, um ihr näher zu kommen. Doch ich habe das Gefühl, dass sie in diesem betrunkenen Zustand erstmals ihre Barrieren fallen lassen kann die sie sonst vor sich herträgt, um sich abzuschirmen.
„Dafür sehen Sie wunderschön darin aus", raune ich. „So, wie die Schwester einer Königin aussehen muss."
Sie stöhnt auf. „Bitte fang nicht damit an." Ihre Stimme klingt ein wenig schleppend und vermutlich merkt sie gar nicht, dass sie mich mit Du anspricht. Aber mich stört es auch nicht. Keineswegs. Nicht, wenn sie es tut.
Ich nehme ihre Hand. „Tut mir leid, aber ich muss damit anfangen. Warum hast du mir das nicht gesagt? Warum wolltest du überhaupt Annalies Gouvernante werden? Dafür bist du maßlos überqualifiziert." Sie runzelt die Stirn. „Ich hatte meine Gründe."
Ich sehe sie eindringlich an. „Esther, warum sagst du mir nicht die Wahrheit? Warum bist du nicht hiergeblieben? Im Palast oder wenigstens in deinem Heimatland? Du hättest ein sorgenfreies Leben haben können, einen hohen Stand, keine Arbeit und viele Verehrer..."
„Nein, das konnte ich nicht mehr haben. Ich habe einen Fehler gemacht. Einen schrecklichen Fehler. Und ich bin dafür bestraft worden, weniger, als ich es verdient hätte. Ich konnte hier nicht mehr bleiben. Das sorgenfreie Leben als Hofdame hat mich abgestumpft, ich bin so eine furchtbare Person gewesen." Eine einzelne Träne rinnt ihr die Wange hinab und ich wische sie weg.
„Ich bin so ein schwacher Mensch gewesen, ich habe mich manipulieren lassen und andere manipuliert. Ich war ohne Gewissen und ohne Wärme und Liebe und Zuneigung..."
Sie fängt an zu weinen und lässt es zu, dass ich sie an meine Schulter ziehe. Ich streiche ihr beruhigend über das Haar und murmele immer wieder, dass es nicht stimmt, was sie da sagt.
Nach ein paar Minuten hat sie ihre Fassung wiedergefunden und richtet sich auf. „Die Arbeit mit Annalies war das Schönste, was ich je tun durfte in meinem Leben. Ich brauche kein sorgenfreies Leben, keinen Rang und kein Geld und erst recht keine Verehrer. Und ich will jetzt nicht darüber reden. Mein Kopf dreht sich schon."
Das kann ich mir vorstellen. Ich seufze. „In Ordnung. Aber eigentlich ist es ziemlich schade." Sie blickt mich verwirrt an. „Was ist schade?" Ich streiche ihr sanft über die Wange. „Dass du keine Verehrer willst. Denn ich verehre dich zutiefst." Ihre wunderschönen braunen Augen blicken mich staunend an. „Wirklich? Aber ich bin streng und furchtbar und unehrlich und..." Ich lege meinen Finger auf ihre Lippen und bringe sie damit zum Schweigen. „Esther Griffel, du bist großherzig, gütig, intelligent, wunderschön und du schaffst es, dass ein alter, kauziger Baron sich wie ein Narr fühlt."
Sie beißt sich auf die Lippe. „Du bist nicht alt, du bist dreißig. Und kauzig auch nicht. Höchstens manchmal. Und ganz am Anfang warst du ziemlich unmöglich. Aber irgendwie mag ich dich trotzdem."
Mein Lächeln wird immer breiter. „So, so. Du magst mich also?" Esther wird rot. Ich hebe ihr Kinn an, sodass sie mir in die Augen sehen muss. „Ich mag dich auch, Esther. Sehr sogar", flüstere ich. Sie hält die Luft an. Langsam kommen wir uns näher. Ich lege meine Lippen auf ihre und sie erwidert den Kuss leicht. Es ist der schönste Moment in meinem Leben.
Leider währt er nur kurz. Esther schiebt mich bestimmt von sich. „Orland, du wirst mich hassen. Spätestens morgen." Ich streiche ihr übers Haar. „Ich werde dich niemals hassen. Und schon gar nicht morgen." Ich hauche ihr noch einen Kuss auf die Lippen und sie seufzt ergeben. Vermutlich ist sie für Widerspruch schon zu betrunken.
Gemeinsam sitzen wir auf einer Wiese in der Dunkelheit, sie lehnt sich mit dem Rücken an mich und schließt die Augen. Das breite Halsband scheint sie zu stören, immer wieder zieht sie unbewusst im Halbschlaf daran herum. Vorsichtig löse ich den Verschluss und ziehe den Stoff beiseite. Und in diesem Moment erkenne ich den in ihren Nacken tätowierten Buchstaben. Ich habe diese Tätowierung noch nie an einem Menschen gesehen, doch ich weiß, was sie bedeutet. Es ist das schlichte, schwarze V der Verbannten.

Die GouvernanteWhere stories live. Discover now