Kapitel 5 - Orland

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Ich atme tief durch, um diese Begegnung zu verdauen. Meine Knie sind weich und mein Kopf dreht sich. In meinen Gedanken purzeln die Fragen nur so übereinander. Warum hat Kasimir mich nicht besser auf sie vorbereitet? Wo hat er sie gefunden? Und warum, zum Teufel, musste ich mich wie der letzte Idiot benehmen?

„Ich brauche jetzt erst einmal einen Schnaps", murmele ich zu mir selber, doch mein Bruder, der genau in diesem Moment das Arbeitszimmer wutschnaubend betritt, hört es natürlich. „Ja, das kann ich mir vorstellen!", schimpft er. „Vermutlich kannst du dein schändliches Benehmen nur im Alkohol ertränken!"

Ich seufze. „Kasimir, nimm es dir nicht zu Herzen. Ich weiß, dass sie dein Vorschlag war, und dass du sauer bist, dass ich dir in diesem Punkt nicht vertraut habe, aber..." Er unterbricht mich zornig. „Spare dir deine Entschuldigungen, solange du nicht verstehen willst, worum es mir geht. Du bist für Annalies verantwortlich und kannst ohne Rücksicht auf meine Belange ablehnen oder einstellen, wen du willst. Aber das ist nicht der springende Punkt. Du hast dich einfach nur abscheulich verhalten gegenüber einer Dame, die in einem anderen Land zu einer anderen Zeit mindestens ebenso viel gegolten hat wie du. So behandelt man eine achtbare Person nicht, so behandelt man niemanden! Und ich wette, du hast noch nicht einmal einen triftigen Grund für dein Gebaren. Vielleicht bist du einfach nur schlecht gelaunt oder du kannst es nicht ertragen, dass eine Frau in deinen Haushalt kommen soll. Aber dann lass es nicht an ihr aus, denn sie ist hergekommen, um mir, dir und Annalies in einer schwierigen Situation zu helfen. Wenn du Bedenken hast, dann diskutiere sie mit mir, aber gefährde nicht deinen Ruf! Du kannst nie wissen, welchen Einfluss eine solche Frau besitzt und du kannst dich glücklich schätzen, wenn sich diese Farce nicht herumspricht. Du musst deine Stellung schützen, Orland. Wegen Annalies. Und für Annalies."

Die große Standuhr schlägt zwölf. Ich rappele mich von meinem Stuhl hoch. „Es gibt Essen", bemerke ich und verlasse das Zimmer, ohne auf Kasimirs Vorwürfe einzugehen. Natürlich hat er Recht. Er hat fast immer Recht. Schon während des Gespräches habe ich gewusst, dass ich mich falsch verhalte, dass ich unfreundlich und keinen Deut besser bin als meine Pächter, wenn sie über meine Nichte herziehen. Und doch hat mir mein Benehmen ein gewisses Maß an Sicherheit, an Macht gegeben. Ich hatte das Gefühl, genau die Kontrolle wiederzuerlangen, die ich verloren habe, sobald Esther Griffel den Raum betreten hat.

Mein Bruder eilt hinter mir her. „Und das ist alles, was du zu sagen hast? Es gibt Essen? Denkst du nicht, dass du mir eine Erklärung schuldig bist, warum du mich vor ihr so bloßgestellt hast? Ich habe ihr diese Stelle regelrecht angepriesen und gebetet, dass sie das Dasein als Gouvernante in Betracht zieht, obwohl sie maßlos überqualifiziert ist. Und du trittst meine Bemühungen und ihre Güte in vollem Bewusstsein mit Füßen."

Ich schnaube genervt. „Du magst in vielen Punkten richtig liegen, aber meinst du nicht, dass du sie ein wenig zu weit in den Himmel lobst? Was genau soll an ihrer Suche nach Arbeit gütig sein?" Kasimir greift nach meinem Arm und zwingt mich somit zum Stehenbleiben, bevor ich den Speisesaal betreten kann.

„Es ist gütig", meint er mit gesenkter Stimme, „sich von dir beleidigen zu lassen und trotzdem nicht ein schlechtes Wort über Annalies und ihre Herkunft zu verlieren. Sie hätte dich und deine Familie genauso beleidigen können wie du sie, aber sie hat es nicht getan. Und zwar deshalb nicht, weil sie ein Mensch ist, der nicht von Vorurteilen zerfressen ist und einem Kind die Schuld an der Unehelichkeit gibt."

Ich mache mich von ihm los und stoße die Tür auf. Annalies hat sich bereits auf ihrem Platz niedergelassen und die Serviette auf den Schoß gelegt. Ich stolziere zu meinem Stuhl an der Stirnseite und lasse mich nieder. Kasimir setzt sich nur widerwillig neben mich.

„Sie können auftragen", weise ich Ernst, meinen Bediensteten an. Mein Bruder hält genau so lange den Mund, bis die Suppe vor uns abgestellt wurde und ich den ersten Löffel zu mir genommen habe.

Die GouvernanteOù les histoires vivent. Découvrez maintenant