Kapitel 38 - Esther

866 75 14
                                    

Ich führe Orland und seine Nichte, die sich bei ihm untergehakt hat, durch das Schloss, Richtung Ballsaal. Inzwischen ist mir die Situation hier eindeutig entglitten. Es ist genau das eingetreten, was ich befürchtet habe: Nach und nach tritt meine Vergangenheit wieder in mein Leben. In Form von Menschen, die mich immer noch wie eine Hofdame ansprechen, in Form von meiner Schwester, die ein wenig mit meinem Patron plauscht und in Form von einer Einladung zum königlichen Frühstück.

In mir macht sich das Gefühl breit, das ich auch damals, während Titus' Prozess, in mir spüren konnte: Dass es von nun an nicht mehr in meiner Hand liegt, was passieren wird. Meine Identität wird aufgedeckt werden und ich werde, wie schon einmal, auf die Gnade der mir liebsten Menschen angewiesen sein.

Mich schmerzt der Gedanke daran, dass Orland mich in ein paar Stunden schon verachten könnte. Dass alles, was sich zwischen uns entwickelt hat, bald Geschichte ist. Dass er erfahren wird, was für ein schlechter Mensch ich bin.

Doch ich weiß, dass ich das verdient habe. Tatsächlich wünsche ich mir, dass mich all die Bediensteten und alle Menschen, die ich kenne, so behandeln würden, wie ich es verdiene. Ich habe das Gefühl, nicht richtig bestraft zu werden, nicht die volle Konsequenz meines Handelns damals zu tragen, wenn die Leute ringsum nicht abwertend über mich tuscheln, mich nicht böse anschauen und schlecht über mich denken. Vermutlich hat Martha dafür gesorgt, doch ich wünschte, sie hätte es nicht getan. Denn ich hätte nichts anderes verdient.

Mittlerweile sind wir auf eine Traube Adliger gestoßen, die ebenfalls Richtung Ballsaal streben. Wir schließen uns ihnen an und ich nutze die Gelegenheit, mich hinter Orland und Annalies zu begeben, so wie es sich gehört. Nach einer weiteren Biegung gelangen wir zum Haupteingang, vor dem sich eine kleine Schlange gebildet hat. Nacheinander treten die Gäste in Paaren oder kleinen Gruppen in den Saal ein und werden dabei gebührlich durch Herrn von Kämmerlich angekündigt.

Als wir an der Reihe sind, sehe ich, wie Annalies nervös auf und ab wippt, doch Orland drückt beruhigend ihre Hand. Ich bin so stolz auf die beiden. Sie vermitteln den Eindruck einer richtigen Familie und es rührt mich, das zu sehen.

„Seine Durchlaucht, Orland Baron von Mailinger mit seiner Nichte Baroness Annalies!", ruft der Zeremonienmeister aus und wir betreten den Saal. Ich bin mehr als froh, dass er mich nicht angekündigt hat. Doch ich glaube, diesbezüglich habe ich mich heute auch klar ausgedrückt.

Annalies schaut sich staunend um. So viel Pracht und Reichtum hat sie ohne Zweifel in ihrem Leben noch nie an einem Fleck gesehen. Doch so wie sie sich danach sehnt, dieses Leben inmitten der Reichen und Schönen führen zu können, so wächst meine Angst mit jedem Schritt, den ich weiter in diesen Saal hineintue.

„Hier haben Sie gewohnt, Mademoiselle?", fragt Annalies mit großen Augen. Ich nicke. Sie strahlt. „Wie wunderschön! Es muss das Paradies gewesen sein." Ich räuspere mich. „Annalies, reiße dich zusammen. Du bist in einer hohen Gesellschaft, dein Übermut ist fehl am Platz."

Die Angesprochene versucht sofort, ihren Überschwang zu dämpfen, aber ich sehe, dass es in ihr vor Aufregung brodelt.

„Warum sind Sie immer so streng zu ihr?", raunt Orland mir zu, der soeben neben mich getreten ist. Sein Atem streift mein Ohr. „Sie ist ein junges Mädchen, darf sie sich nicht ein bisschen vergnügen?"

Ich blicke in seine funkelnden Augen und muss all meine Beherrschung aufbringen, dass meine Gedanken nicht abschweifen. „Sie haben mich als Gouvernante eingestellt. Es ist meine Pflicht, dafür zu sorgen, dass sie sich heute Abend keine Blöße gibt. Davon abgesehen ist Schein nicht immer gleich Sein. Ein Paradies kann sehr schnell zur Hölle werden. Nirgendwo werden so viele Intrigen gesponnen wie unter dem Schutzmantel des Reichtums."

Die GouvernanteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt