Kapitel 37 - Orland

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Ich werfe einen Blick in den nächsten Flur und versuche, mich daran zu erinnern, ob ich hier schon gewesen bin. Der gesamte Palast ist gigantisch und prachtvoll, vor allem aber ein Labyrinth.

Nach unserer Ankunft und der seltsamen Diskussion, die Esther mit all diesen Angestellten geführt hat, sind wir zum Glück sofort zu unseren Gästezimmern gebracht worden. Ich hatte mich in Ruhe eingerichtet und umgesehen und war anschließend zu Annalies hinübergegangen, um zu sehen, wie es ihr geht. Zudem wusste ich allein in einem protzigen Zimmer nicht viel mit mir anzufangen.

Unglücklicherweise waren die Damen sehr miteinander beschäftigt, weshalb ich beschloss, mich im gesamten Schloss ein wenig mehr umzusehen.

Und jetzt weiß ich nicht mehr genau, wo ich bin. Erst wollte ich den Weg zurückverfolgen, den wir in Begleitung der Bediensteten genommen hatten, um an die frische Luft zu gelangen, doch irgendwo muss ich eine falsche Biegung genommen haben, denn hier, wo ich nun gelandet bin, meine ich noch nie gewesen zu sein.

Ich betrete den Flur auf gut Glück und zu meiner Freude weitet er sich nach ein paar Metern zu einer großen Galerie. Die eine Wand ist unterbrochen von großen Bogenfenstern, durch welche die Frühjahrssonne in den Raum hineinfällt. An der Wand gegenüber hängen zahlreiche Portraits. Nach ein paar flüchtigen Blicken fällt mir auf, dass sie ausschließlich Damen darstellen.

Da ich nichts Besseres zu tun habe, schreite ich die Portraits ab und mustere die Frauen. Die Hintergründe sind meist düster gehalten, die Gesichtszüge streng und wie gemeißelt. Manchmal werfe ich einen Blick auf das kleine Messingschild unter den Portraits, auf denen Namen und Jahreszahlen verzeichnet sind. Die Zeitspanne, welche durch die Jahreszahlen angegeben wird, beträgt in der Regel drei bis fünf Jahre, fast, als handele es sich um eine Amtszeit.

Ich bin fast am Ende der Galerie und lese den Namen Theodora von Mühlen. Er kommt mir irgendwie bekannt vor. Hat Esther ihn vielleicht irgendwann erwähnt? Ich versuche, mich daran zu erinnern, in welchem Kontext das gewesen sein könnte, aber es will mir nicht einfallen. Also hebe ich den Blick zum nächsten Portrait und bin einen Moment lang wie vor den Kopf gestoßen.

Ich bin so verwirrt von dem, was ich sehe, denn ich kann dieses Bild vor meinen Augen nicht mit dem Bild vereinbaren, das sich bereits seit Langem in meinem Kopf befindet.

Die Dame auf dem Foto ist Esther. Aber nicht die Esther, die ich kenne. Meine Esther strahlt, bei all der Strenge, die sie oft walten lässt, etwas Warmes, Leuchtendes aus. Doch das Gemälde vor mir ist kalt. Der Blick der Person darauf ist unbeugsam, abweisend und verbissen. Und das gibt mir ein negatives, unsicheres Gefühl.

„Kann ich Ihnen helfen?", unterbricht mich eine weibliche Stimme und ich schrecke auf. Ich wende mich um und sehe mich einer jungen Frau gegenüber, die ein Kind auf dem Arm trägt. Sie ist hübsch, zierlich und trägt ein hellgrünes, schlichtes Kleid. Das offene Lächeln in ihrem leicht sommersprossigen Gesicht vertreibt sofort das schlechte Gefühl, das sich in mir breit gemacht hat und ich lächele, ohne mir dessen bewusst zu sein, wie von selbst zurück.

Das Baby auf ihrem Arm gluckst und sabbert ein wenig auf ihr Kleid, doch sie scheint nicht im Geringsten gestört davon zu sein. Im Gegenteil. Liebevoll streicht sie ihm über den Kopf.

„Danke, das ist sehr freundlich", reagiere ich auf ihre Frage. „Ich wollte mich ein wenig umsehen und habe mich – so peinlich das ist – verlaufen." Sie schmunzelt. „Das muss Ihnen überhaupt nicht peinlich sein, mein Herr. Sind Sie heute angereist?"

Ich nicke. „Ja, gemeinsam mit meiner Nichte Annalies und meiner – ich meine ihrer – Gouvernante." Ich werfe einen flüchtigen Blick auf Esthers Portrait. Als meine Aufmerksamkeit sich wieder der jungen Frau zuwendet, bemerke ich, dass sie mich eingehend mustert.

Die GouvernanteWhere stories live. Discover now