Kapitel 45 - Esther

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„Fräulein Sabina, das ist ein D!", rufe ich genervt, als das Mädchen nun schon zum fünften Mal den falschen Ton auf dem Piano spielt – mit Absicht, wie ich stark vermute. Meine Geduld ist am Ende, meine Wut auf mich selber entlädt sich auf die armen Kinder und für meine Zukunft sehe ich inzwischen schwarz. „Das ist ein blödes Stück", mault Sabina, „das will ich nicht spielen." „Ich weiß." Ich bemühe mich um einen ruhigen Tonfall. „Aber ich habe nicht darüber zu entscheiden, was Sie lernen. Ihr Vater möchte gerne, dass Sie es am Sonntag dem Besuch vorspielen." „Aber das ist ein blöder Besuch", ruft das Mädchen bockig.

Genau in diesem Moment rauscht die Gräfin in das Gesellschaftszimmer. Die blasse, dünne Frau gibt sich jeden Tag erneut Mühe, ihr fahles Äußeres durch überbordende Kleidung zu kompensieren, doch bisher ist ihr das an keinem Tag wirklich gelungen. „Habe ich da etwa ein böses Wort gehört?", fragt sie pikiert und fixiert sich auf mich, statt auf ihre Tochter. „Sie dürfen ihr dieses Benehmen unter keinen Umständen durchgehen lassen, Fräulein. Sabina und Lassa werden einmal in den höchsten Gesellschaftskreisen verkehren und da sind solche Launen fehl am Platz. Ich bin überrascht, dass ich Sie überhaupt darauf hinweisen muss."

Ich atme tief durch. Zu Beginn meiner Arbeit hier ist mir nur allzu deutlich geworden, dass ich mich entscheiden muss: Entweder ich mache die Eltern glücklich und bringe die Kinder gegen mich auf, oder andersherum. Ich habe mich für die Kinder entschieden. Und zwar nicht aus dem edlen Motiv heraus, dass ich mich um sie sorgen würde oder so, sondern lediglich, weil mir zu Ohren gekommen ist, dass sie einmal die Arbeitskleidung einer verhassten Gouvernante mit Bastelscheren zerschnitten haben. Und so tief will ich nicht sinken.

„Oh nein!", schallt es vom Tisch, wo Lassa gerade die volle Teetasse ihres Puppengeburtstags umgestoßen hat. Das Getränk durchnässt das frische weiße Tischtuch und das Lieblingskleid des Mädchens. Dieses fängt auch sofort an zu weinen.

„Lassa, hör mit diesem Lärm auf", wird sie auch sogleich von ihrer Mutter gescholten. Diese wirft mir einen bösen Blick zu. „Kümmern Sie sich darum", weist sie mich an, ehe sie aus dem Zimmer rauscht.

Ich spüre ein dumpfes Hämmern hinter den Schläfen, der erste Vorbote eines heftigen Kopfschmerzes. „Wir machen eine kurze Pause. Schauen Sie sich die Noten weiter an", weise ich meine Klavierschülerin an, bevor ich nach dem Zimmermädchen läute, das die Mädchen immer umzieht.

Während die Angestellte mit dem schniefenden Kind an der Hand den Raum verlässt, beginne ich damit, den Tisch abzuräumen und das Tischtuch abzuziehen, bis jemand da ist, der sich der Sauerei annimmt. Dabei werden meine Nerven dadurch strapaziert, dass Sabina den Problem-Takt in Endlosschleife mit dem falschen Ton übt.

Warum nur bin ich der Meinung gewesen, dass der Platz, den das Leben mir schenken wollte, nicht der richtige für mich ist? Wieder einmal habe ich meine Wünsche und Prinzipien aus den Augen verloren. Zuerst wollte ich Ruhm und Ehre, mehr als mein Elternhaus mir geben konnte, und habe mich dabei in eine Intrige verrannt. Dann habe ich mich nach Heimat gesehnt, nach einem Ort und Menschen, die ganz konkret mich brauchen. Und als sich diese Sehnsucht erfüllt hat, haben meine Selbstzweifel mich davon abgehalten, die Chance meines Lebens zu ergreifen. Vielleicht habe ich es nicht verdient, dass Orland mich liebt. Aber ihm war meine Vergangenheit egal. Er hat mir alles angeboten, was er zu geben hat. Und mein verräterischer Stolz, der erst mehr wollte als ich besaß und beim zweiten Mal weniger, hat alles zerstört.

Ein Klopfen am Türrahmen reißt mich aus meiner Geschäftigkeit. Der Butler, ein älterer Herr mit gewichtiger Miene, vergewissert sich, dass ich seine Aufmerksamkeit habe und verkündet dann kurz angebunden: „Seine Durchlaucht der Graf möchte Sie im Empfangszimmer sehen." Er dreht sich auf dem Absatz um, als wäre eine weitere Sekunde in meiner Gegenwart unter seiner Würde.

Die GouvernanteWhere stories live. Discover now