Kapitel 25 - Esther

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In den folgenden Tagen versuche ich, mich unauffällig zurückzuziehen. Ich beschäftige mich mit Annalies. Der Tanzunterricht ist nunmehr nicht notwendig und die Gelegenheit, Orland näher zu kommen, dadurch eingeschränkt.

Er unterrichtet mich weiterhin und ich versuche mich stets so gut es geht auf die Buchstaben zu konzentrieren. Ich lerne mit einer Verbissenheit, die mir schnelle Fortschritte beschert. Die Woche vor Weihnachten fühle ich mich so sicher in meinem Lesen und Schreiben, dass ich mein Üben alleine weiterführen kann.

Annalies erhält viele Einladungen zum Tee oder zum Plaudern und ich begleite sie dabei. Es macht mich froh zu sehen, wie sie in der Gesellschaft angenommen wird. Ihr Auftreten bei den Kardens hat sich herumgesprochen und plötzlich möchte sich jeder mit der Bekanntschaft der Baroness schmücken.

Einen Tag vor Heilig Abend reist Baron von Grohting mit seiner Familie an. Während die Männer sich häufig zurückziehen, unterhalte ich mich ausgiebig mit der Baronin. Fast erschreckt es mich, dass mich niemand hier wie die anderen Angestellten behandelt. Eigentlich sollte ich mich freuen, eigentlich könnte ich so glücklich sein. Doch die Sorgen geistern durch meinen Kopf und ich kann sie nicht vertreiben.

Ich weiß nicht, ob Orland sich über seine Kommunikation beim Tanzen bewusst gewesen ist, doch hätte ein Mann bei Hofe so mit mir geredet, wäre ich davon ausgegangen, dass er ernste Absichten hegt. Und ich schließe nicht aus, dass der Baron auch wirklich meint, was er sagt. Wir haben das Verhältnis zwei vertrauter Menschen, ohne Bedenken lässt er mich für Annalies sein Geld ausgeben oder teilt mir seine Probleme mit. Und ich genieße es. Ich genieße seine Zuwendung, seine Aufmerksamkeit und seine Gegenwart, weil ich mich wohlfühle bei ihm. Und dennoch bin ich keine Frau, die sich einfach irgendwelchen Illusionen hingeben kann.

Schließlich ist es Baron von Grohting, der mich zwischen Weihnachten und Neujahr auf mein Verhalten anspricht. Er gesellt sich zu mir, als ich durch den kahlen Garten laufe, um frische Luft zu schnappen und beginnt ohne Umschweife: „Sie waren still die letzten Tage, Fräulein Griffel. Ich hoffe, Ihnen geht es gut." Ich zwinge mich zu einem Lächeln und meine ausweichend: „An Weihnachten merkt man besonders, wie sich das Leben verändert hat. Andere Menschen, andere Traditionen. Übrigens finde ich es reizend, wie Ihre beiden Töchter sich um Annalies bemühen. Gestern haben Sie mit ihr am Klavier einfache Duette gespielt. Es ist schön, dass ich einmal nicht die einzige Gesellschaft bin, die sie hat."

Kasimir von Grohting nickt. „Das stimmt zweifellos, aber Sie weichen meiner Frage aus. Ich möchte doch nur, dass es Ihnen gut geht, dass Sie sich wohlfühlen. Und mein Bruder wünscht sich das auch."

Ich ziehe meinen Schal enger um mich. „Ich fühle mich wohl. Sehr sogar. Und womöglich ist das mein Problem. Ich hätte nicht gedacht, je so gut mit Ihrem Bruder auszukommen, vor allem wenn ich bedenke, was am Anfang vorgefallen ist. Aber nun habe ich das Gefühl, dass es mir schwerfällt, den Abstand zu wahren, der sich in meiner Stellung ziemen würde. Ich weiß gerne, wo mein Platz ist und ich halte mich normalerweise an meine Rollenbeschreibung. Aber hier ist sie außer Kraft gesetzt. Zumindest nach meinem Gefühl. Ich weiß nicht, wie Ihr Bruder das sieht..." Ich atme tief durch. Die Worte sind nur so aus mir herausgesprudelt, obwohl ich normalerweise die Dinge mit mir selbst ausmache. Und dann ausgerechnet vor Orlands Bruder! Doch den scheint es nicht weiter zu stören.

„Fräulein Griffel, Sie sind ohne Zweifel eine sehr disziplinierte Dame und ich kann verstehen, dass Sie verunsichert sind durch das Vertrauen, das Ihnen nicht nur durch Annalies, sondern auch durch meinen Bruder zuteilwird. Aber vielleicht ist es das, was Sie hier lernen können: Dass keine Rolle so fest gefügt ist, dass sie nicht an den Haushalt und die Personen angepasst werden kann. Sie gehören inzwischen zu den Menschen, die Orland am meisten schätzt. Und ich rate Ihnen, sich dem nicht zu entziehen. Sie sind frei in Ihren Entscheidungen. Aber womöglich ist es an der Zeit, dass Sie die Fäden ein wenig aus der Hand geben und die Dinge laufen lassen. In den meisten Fällen kommt es so, wie es soll."

Ich weiß nicht genau, was er mir damit sagen will. Und ich wüsste gerne, worüber er und Orland geredet haben. Doch immerhin habe ich nach diesem Gespräch das Gefühl, nicht für alles verantwortlich zu sein, nicht allein die Kontrolle behalten zu müssen.

Als am Abend alle um den Baum sitzen und Weihnachtslieder singen, kann ich befreit einstimmen. Und als Orland über den Raum hinweg meinen Blick auffängt, weiche ich nicht aus. Das erste Mal kann ich wirklich den Gedanken zulassen, dass ich beginne, mich in Baron Orland von Mailinger zu verlieben.

***

Am Silvesterabend sitzen wir alle an einer langen Tafel und genießen das Festessen. Im Garten sind Fackeln aufgestellt worden, welche die Wege erleuchten und zuckende Schatten werfen. Kurz vor Mitternacht stehen alle gemeinsam im Salon und zählen zum Ticken des Sekundenzeigers die Zeit rückwärts, bis es Mitternacht ist. Ernst reicht jedem ein Glas Schaumwein und wir stoßen auf das neue Jahr an.

Die Männer schicken die Mädchen ins Bett und kurz darauf verabschieden sich auch Kasimir und Vivien von Grohting, da ihre Abreise am nächsten Tag bevorsteht. Orland und ich verbleiben alleine im Salon. Ich wünschte, mein Leben wäre unkompliziert. Keine Widersprüche zwischen dem, was ich mir wünsche und dem, was sich geziemt. Ich rekapituliere meine Entwicklung in den letzten Monaten. Hätte ich mich mehr zurückhalten müssen? Andererseits hat Annalies meine Hilfe gebraucht. Und ihr Onkel ebenso.

Ich trete ans Fenster und schaue hinaus in die Dunkelheit. „Haben Sie Wünsche für das neue Jahr, Esther?", vernehme ich Orlands Stimme. Ich überlege einen Augenblick. Meine Gedanken sind in den letzten Tagen und Wochen ein einziges Chaos gewesen. Es gibt realistische Dinge, die ich mir wünsche. Es gibt sehr unwahrscheinliche Wünsche und es gibt unmögliche.

„Ich hoffe, dass Annalies ihren Weg findet. Dass sie ihren Träumen folgt", beantworte ich schließlich seine Frage. Ich höre das Lächeln in seiner Stimme, als er sagt: „So ehrenwert ich es finde, dass Sie immer zuerst an alle anderen denken, ich wollte wissen, was Sie sich für sich selbst wünschen." Ich starre in die Nacht und weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Schließlich entweicht mir der Satz: „Dass es einfacher wird." „Was genau?", hakt Orland nach, doch ich schüttele nur den Kopf als Zeichen, dass ich darauf nicht antworten möchte.

Ich wünsche mir, dass es einfacher wird, mich selbst zu akzeptieren. Nach vorne zu schauen. Mein Schicksal anzunehmen. Doch ihm kann ich das unmöglich sagen.

„Was wünschen Sie sich?", frage ich aus Neugier, aber auch, um von mir selber abzulenken. Er tritt zu mir ans Fenster. „Dass Sie weiter bei uns bleiben." Verlegen schaue ich zur Seite. „Jetzt denken Sie aber selber an Annalies", necke ich ihn. Doch er ist vollkommen ernst, als er erwidert: „Eigentlich, Esther, habe ich dabei nur an mich gedacht."

Er schenkt mir etwas von dem Schaumwein nach und zu zweit stoßen wir an, während vor dem Fenster der erste Schnee des Jahres fällt. Und ich sage mir, dass ich morgen wieder anfangen kann, vernünftig zu sein.



Hallo ihr Lieben,

an dieser Stelle möchte ich  ganz herzlichen Dank sagen für die 1000 Reads, welche "Die Gouvernante" kürzlich erreicht hat. Ich betrachte diese Zahl nicht als Ziel, das ich unbedingt erreichen muss, sondern es ist ein wunderbares Feedback, das mich motiviert, weiter an meiner Geschichte zu arbeiten und sie mit euch zu teilen. Ich hoffe, dass ihr das Lesen meines Buches genauso genießt, wie ich das Schreiben;)

In den folgenden Wochen werde ich vermutlich auch immer mal innerhalb der Woche ein neues Kapitel veröffentlichen, denn wie sicher bei vielen von euch, hat Corona auch meinen Alltag lahmgelegt. Ich hoffe, dass wir in dieser Phase trotzdem optimistisch bleiben können und wünsche euch, dass ihr gesund bleibt!

Eure MissOpenBook


Die GouvernanteOn viuen les histories. Descobreix ara