Kapitel 20 - Orland

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Esther Griffel sieht müde aus, schießt es mir als erstes durch den Kopf, als ich sie und Annalies am Vormittag im kleinen Ballsaal des Hauses treffe. Kurz überlege ich, ob ich sie darauf ansprechen soll, doch als sie in gewohnter Zielstrebigkeit den Plan für die Unterrichtsstunde erläutert, verwerfe ich diese Überlegungen. Vermutlich mache ich mir viel zu viele Sorgen. Ich sollte mich auf meine Nichte konzentrieren, die schon beim Frühstück vor guter Laune nur so übergesprudelt ist und es auch jetzt nicht erwarten kann, das Tanzbein zu schwingen. Doch wann immer ich nicht aufpasse, wandert mein Blick wie von selbst zurück zu ihrer Gouvernante, deren Augenringe deutlich von einer schlaflosen Nacht zeugen.
„Durchlaucht, hören Sie mir auch zu?", reißt Fräulein Griffel mich aus meinen Grübeleien. „Ich...", setze ich an und überlege, diese Frage zu bejahen, doch ich kenne Esther inzwischen gut genug, um zu wissen, dass sie mir dann eine Verständnisfrage stellen wird. Also seufze ich und gebe mich geschlagen. „Tut mir leid, Fräulein, ich war etwas abwesend."
Sie muss sich ein Lächeln verkneifen und ich fühle mich wie ein kleiner Junge, der auf die Schelte seiner Lehrerin wartet. Doch zu meiner Überraschung ist sie mir milde gestimmt. „Nun gut, da Sie es zugeben, will ich nachsichtig mit Ihnen sein, Durchlaucht. Annalies, sicher kannst du deinem Onkel wiedergeben, was ich dir soeben erklärt habe."
Ich wende mich ganz meiner Nichte zu, die ohne große Probleme und mit größter Bedeutsamkeit in der Stimme erzählt: „Die Tanzkultur ist die wohl beliebteste gesellschaftliche Unterhaltungsform. Und ihre Ausführung  lässt deutliche Rückschlüsse auf Stellung und Bildung einer Dame zu." „Das gilt auch für Herren", wirft Esther Griffel ein. „Es gibt mehrere Tänze und Schrittfolgen", fährt meine Nichte fort, „die an die jeweilige Charakteristik der Musik angepasst sind. Jedoch werden wir die Schrittfolgen heute zunächst trocken üben. Wenn wir die Tänze besser beherrschen, wird Fräulein Griffel sich beim nächsten Mal ans Pianoforte begeben."
Ich zweifle nicht daran, dass Annalies die Einführung wortwörtlich wiederholt hat. Esther klatscht in die Hände und bittet um Aufstellung. Da weder ich noch Annalies wissen, wie es denn richtig geht, positioniert sie uns ein paar Schritte voneinander entfernt, dem jeweils anderen gegenüber. Knicks und Verbeugung gehen reibungslos, danach folgen Anweisungen von Fräulein Griffel, denen wir folgen sollen.
Aufeinander zugehen, voneinander weg, vorwärts, rückwärts, Drehung, halbe Drehung, Wechsel mit dem benachbarten Partner, Promenade, ineinander, umeinander, miteinander und, und, und.
Ich brauche meine ganze Konzentration, um einigermaßen das Richtige zu tun, während Annalies vollkommen in dieser Art von Unterricht aufgeht. Nach zwei Durchläufen, in denen Esther jeweils den nächsten Schritt angesagt hat, meint sie: „Das sieht doch ganz passabel aus. Ich bin für eine weitere Wiederholung, ohne dass ich ankündige, welche Figur als nächstes kommt. Durchlaucht, schauen Sie nicht so sehr auf Ihre Füße, sondern blicken Sie zu Ihrer Partnerin. Und Annalies, du machst das sehr schön, achte nur darauf, deine Hände etwas eleganter zu reichen."
Fräulein Griffel zählt den Takt, es folgen Knicks und Verbeugung. Wir gehen aufeinander zu. Annalies reicht mir die Hand, ich ergreife sie und dann laufen wir ineinander, weil ich in die falsche Richtung abgebogen bin.
Annalies kichert, während ich mir peinlich berührt durch die Haare fahre. „Tut mir leid. Das war mein Fehler." Esther muss sich ein Lächeln verkneifen, doch das nehme ich ihr nicht übel. Ich würde auch lachen, wenn ich zum Beispiel Kasimir dabei zusehen würde, wie er in seine Tanzpartnerin hineinrennt.
„Ich habe Sie vorgewarnt, Fräulein Griffel", bemerke ich, um meinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. „Ich bin diesbezüglich ein hoffnungsloser Fall." „Das stimmt nicht", erwidert sie bestimmt. „Wenn überhaupt, bin ich eine furchtbare Lehrerin." „Sie sind eine wunderbare Lehrerin", widerspreche ich und sie meint mit einem verschmitzten Lächeln: „Stimmt. Deshalb halte ich es auch für sehr wahrscheinlich, dass es Ihnen einfach nur zu schnell ging. Annalies, du gehst am besten ein Stück nach dort hinten und übst die Schritte für dich. Und achte auf deine Hand und dein Lächeln. Ich werde mit deinem Onkel ein wenig langsamer noch einmal alles durchgehen." Bevor ich Widerspruch einlegen kann, ist meine Nichte schon ans andere Ende des Ballsaals gehüpft und dort in einen tiefen Knicks versunken.
„Ich halte diesen Einzelunterricht für unnötig", beschwere ich mich, doch Esther zuckt nicht mit der Wimper. „Widerstand ist zwecklos, Durchlaucht." „Aber ich bin doch sowieso nur hier, um etwas gemeinsam mit Annalies zu machen..." „Ich sagte, Widerstand sei zwecklos", bemerkt sie ein zweites Mal.
Ich seufze. „Man sollte doch meinen, Sie hätten mit der Erziehung meiner Nichte genug zu tun." Ein Lächeln tritt auf Esther Griffels Gesicht. Sie weiß genau, dass ich dabei bin, weich zu werden.
„Sie sehen das völlig falsch, Durchlaucht", meint sie. „Ihrer Nichte kommt es zugute, wenn sie sich auf dem gesellschaftlichen Parkett bewegen kann. Und das kann sie nicht ohne Ihre Anwesenheit. Und Ihre Anwesenheit erfordert wiederum ein Mindestmaß an Sozialisierung. Sollten Sie sich dabei blamieren, ist wohl weder Ihnen noch Ihrer Nichte geholfen. Außerdem wird es langsam Zeit, dass Sie ein wenig den Reiz des Tanzes erkennen. Tanzen ist nicht einfach ein rhythmisches Laufen. Es geht hierbei um Kommunikation und darum, sich näherzukommen. Nirgendwo werden Sie so eng mit der Dame Ihrer Wahl in Kontakt kommen, wie auf der Tanzfläche. Und deshalb sollten Sie freudig hinnehmen, dass ich mich heute ganz Ihren noch nicht vorhandenen Tanzkünsten widme."
Ich habe es aufgegeben, zu diskutieren. Stattdessen senke ich verschwörerisch den Kopf. „Das heißt, Sie erheben sich heute zur Dame meiner Wahl", kann ich mir nicht verkneifen zu fragen. Sie reckt das Kinn nach vorne. „Das heißt, dass ich mich heute zu Ihrer Lehrerin erhebe. Und jetzt fangen wir an."
Wir beginnen die Schrittfolge. Nach ein paar Sekunden ermahnt mich Esther Griffel: „Durchlaucht, egal was Ihre Füße tun, Ihre Augen sind bei mir." Ich blicke auf, blicke ihr in die Augen und verliere mich darin. Der Tanz wird nicht perfekt, doch es wird leichter für mich. Ich weiß ihre Bewegungen zu deuten, kann erahnen, wohin sie als Nächstes gehen wird und passe mich daran an. Mit Annalies zu tanzen, war ganz nett. Doch mit ihr zu tanzen, ist etwas anderes. Ich glaube, dass Männer wie ich nur deshalb auf die Tanzfläche gelockt werden, weil wir dort Frauen wie sie bei uns haben, weil es für mich in diesem Moment so scheint, als würden wir uns näherkommen.
Als wir diesen Tanz beenden, bin ich fast ein wenig wehmütig. Ich sehe sie an und möchte ihr danken, möchte diesen Moment festhalten, der sich so intim anfühlt, doch er wird jäh unterbrochen von einem lauten Klatschen. Ich wirbele herum und auch Esther schreckt auf.
Mein Bruder steht in der Tür zum Ballsaal und grinst breit über das ganze Gesicht. „Na so etwas! Ich habe Ernst ja gar nicht glauben wollen, als er meinte, der Baron sei mit den Damen im Ballsaal. Aber scheinbar ist hier einiges geschehen. Fräulein Griffel, was für eine Freude, Sie wiederzusehen!" Die Gegrüßte versinkt in einem Knicks. „Ganz meinerseits, Durchlaucht."
Annalies kommt herbeigeeilt und wirft sich übermütig in eine Umarmung. „Onkel Kasimir! Hast du mich tanzen sehen?" Kasimir strahlt sie an. „Aber sicher doch, Annalies. Du tanzt wie eine Elfe. Ich kann richtig sehen, dass du dich zu einer sehr feinen Dame entwickelst. Und nun sag mal: Benimmt Onkel Orland sich auch gut?"
Annalies nickt eifrig. „Ja, meistens. Er hat mir den Spiegel vom Markt geschenkt, den ich so gerne wollte und wir haben zusammen das Rezitieren gelernt und jeden Morgen beim Frühstück liest er mir den Witz aus der Zeitung vor."
Kasimir sieht mich erstaunt und ein wenig perplex an. „Tatsächlich? Das klingt ja ganz vernünftig..." Ich räuspere mich. „So wenig ich das Tanzen auch unterbrechen möchte, ich denke, wir haben ein paar Dinge zu besprechen. Nicht wahr, Kasimir?" Mein Bruder nickt bedächtig. „Ja, sicher. Aber nur, wenn Fräulein Griffel gestattet, dass ich ihren Schüler entführe."
Die Angesprochene lächelt. „Natürlich. Ich werde mich solange mit Annalies der Kunst des Fächerns zuwenden."
Mit einem kurzen Nicken verabschiede ich mich und gehe dann Kasimir voraus ins Arbeitszimmer. Ernst bringt uns beiden einen starken Kräutertee und wir setzen uns einander gegenüber.
„Also", beginnt Kasimir langsam. „Du liest Annalies Witze vor?" Ich zucke mit den Schultern. „Ja, Fräulein Griffel meinte, ich solle mit Annalies kommunizieren. Und diese Witze sind zwar meistens furchtbar schlecht, aber unsere Nichte lacht darüber." „Ah ja. Und was ist das mit dem Spiegel? Und dem Rezitieren? Und dem Tanzen?" Ich lehne mich zurück. „Ach das. Fräulein Griffel hat mich ermutigt, etwas mehr Zeit mit Annalies zu verbringen und hat mich deshalb ein wenig in den Unterricht einbezogen. Und den Spiegel haben wir auf dem Markt gesehen, als wir Accessoires für Annalies' Zimmer besorgt haben. Fräulein Griffel wies mich darauf hin, dass er ihr gefällt und sie nur zu bescheiden ist, um mich darum zu bitten."
Ich sehe das verschmitzte Lächeln in seinem Mundwinkel, als er meint: „So so. Fräulein Griffel also." Ich seufze. War ja klar, dass er mich innerhalb der ersten Sekunden durchschauen würde.
„Ich muss sagen, ich bin positiv überrascht, Orland", fährt er fort. „Ich hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen, als ich das letzte Mal abgereist bin und dich mit unserer Nichte und ohne Gouvernante zurückgelassen habe. Doch jetzt komme ich wieder und höre im Dorf, dass du freundlich und aufgeschlossen bist, dass du Annalies Witze erzählst, Accessoires für ihr Zimmer kaufst und so weiter. Aber noch viel erstaunlicher: Ich erlebe dich mit Esther Griffel in friedlicher Koexistenz, dabei hätte durchaus auch ein Krieg zwischen euch ausbrechen können. Und ich frage mich, warum ich dich nicht schon viel früher mal ins kalte Wasser geworfen habe."
Ich runzele die Stirn. „Das sagst du jetzt so selbstzufrieden und ohne schlechtes Gewissen, weil du erst dann zu Besuch kommst, wenn alle größeren Probleme aus der Welt geschafft sind. Aber glaub mir, es gab Probleme. Es hätte auch in einem Desaster enden können." „Hat es aber nicht", bemerkt mein Bruder scharfsinnig wie eh und je.
„Wie läuft es denn allgemein so mit deiner neuen Gouvernante?" Kasimir beäugt mich neugierig. Ich räuspere mich. „Sie ist Annalies' Gouvernante, nicht meine." Mein älterer Bruder grinst. „Ach wirklich? Ich habe einige Menschen, vor allem Damen, sagen hören, auch du wärst viel umgänglicher geworden, seit sie in deinem Haushalt wohnt. Und du weißt, was für eine wertvolle Quelle Dorftratsch für mich ist."
Ich verschränke die Arme vor der Brust. „Ich war schon immer umgänglich." „Wie du meinst. Also, wie läuft es so? Ist sie anstrengend, so wie andere Frauen? Oder doch ein Engel schlechthin?"
Ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen, ohne dass ich es verhindern kann. „Sie ist perfekt, so ungern ich das dir gegenüber auch zugeben mag. Genau die Person, die wir gebraucht haben. Sie versteht sich wunderbar mit Annalies und ist ihr ein großes Vorbild, besitzt aber genau die richtige Strenge, um ihr das Nötige beibringen zu können. Manchmal neigt sie ein wenig dazu, mich zu bevormunden, aber wirklich nur dann, wenn es um Annalies geht. Oder wenn ich kauzig werde. Ganz ehrlich, ich kann mir gar nicht vorstellen, jemals wieder ohne sie auszukommen."
Kasimir blickt mich wissend an. Ich ziehe die Stirn in Falten. „Du denkst jetzt aber nicht, dass...", beginne ich und werde von meinem Bruder unterbrochen. „Doch, Orland, ich denke genau das, was du jetzt sagen wolltest."
Ich verziehe ärgerlich mein Gesicht. „Jetzt spinnst du aber! Ich meine, natürlich ist sie klug und wunderschön und selbstbewusst und einfach..." „...einfach perfekt?" Ich seufze. „Ja, perfekt trifft es ziemlich gut. Aber das spielt keine Rolle, weil sie meine Angestellte ist. Es ist völlig unmöglich, dass sie in mir jemand anderen sieht als ihren Patron und aus diesem Grund wird da auch nie mehr sein."
Ich glaube ja nicht einmal selber, was ich da sage. Denn tatsächlich ist sie inzwischen so viel mehr als eine Angestellte. Sie füllt das Haus mit einem Gefühl von Geborgenheit, seit sie hier wohnt, spüre ich einen Familiensinn, den ich vorher nicht kannte. Und mir graut vor dem Tag, an dem Annalies bereit dazu ist, auf eigenen Beinen zu stehen.
„Orland." Kasimir klingt ernst. „Du kannst leugnen, so viel du willst. Ich kenne dich einfach zu gut. Für mich ist die Sache ganz klar, aber ich habe die Angst, dass dir nicht klar wird, was du dabei bist zu verspielen. Du hängst immer noch in deinem Selbstmitleid fest. Es ist über zehn Jahre her, dass diese andere junge Dame, deren Name ich nicht einmal mehr weiß, dir einen Korb gegeben hat. Und seitdem vergräbst du dich vor der Damenwelt, obwohl diese Frau dir nicht einmal viel bedeutet hat und du sie nur geheiratet hättest, um deinen Vater stolz zu machen. Aber du musst langsam deinen verletzten Stolz beiseiteschieben und dich um die Frau bemühen, in die du dich, verdammt noch mal, richtig heftig verliebt hast. Lass sie in dein Leben, denn nur so kannst du in ihres gelangen. Und ja, du wirst dich fühlen wie der letzte Idiot und vielleicht wirst du am Ende zutiefst verletzt. Aber vielleicht wirst du auch überglücklich sein. Und glaub mir, ich sehe, wie sehr sie dich verändert hat. Ich würde sie eines Tages gerne als deine Ehefrau sehen und nicht mehr als Gouvernante."
Ich nehme einen großen Schluck Tee. Meine Güte, warum schafft Kasimir es immer wieder, mein Innerstes so nach außen zu kehren? Ich fühle mich so durchschaut.
„Und wie soll ich das genau anstellen? Sie in mein Leben lassen... Wer weiß, ob sie das überhaupt wollen würde. Und ich will ihr jetzt auch nicht offensichtlich auf die Nase binden, dass ich sie... mag. So lange kennen wir uns schließlich noch nicht." „Ach je", seufzt Kasimir theatralisch. „Die Blindheit der Verliebten. Die Antwort ist ziemlich einfach, zumal du einfach mal in die Stellenbeschreibung einer Gouvernante schauen müsstest." Jetzt bin ich komplett verwirrt. „Ich sage nur so viel, Orland: Gouvernanten essen meistens allein auf ihrem Zimmer."

Die GouvernanteWhere stories live. Discover now