Kapitel 7 - Orland

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Unruhig schiebe ich mein Frühstück auf dem Teller herum. Heute ist Sonntag und ich könnte guter Laune sein, wenn es nicht zwei Umstände gäbe, die mich beunruhigen. Zum Einen gehört es sich, dass ich mich mit Annalies in der Kirche zeige. Das bedeutet für meine Nichte, den Blicken der gesamten Gesellschaft Graras ausgesetzt zu sein. Mir graut vor den unwilligen, gehässigen Mienen, aber vor allem davor, dass Annalies sich diese Unfreundlichkeit zu Herzen nehmen könnte. In den letzten Tagen hat sie kaum etwas von ihrer Zurückhaltung abgelegt, sie fühlt sich oft merklich unwohl, obwohl besonders Kasimir sich alle Mühe gibt, sie einzubeziehen und aufzumuntern.

Und das ist der zweite Grund. Mein älterer Bruder hat sich lange für uns Zeit genommen, doch seine eigenen Verpflichtungen holen ihn ein. Er muss zurück zu seiner Familie, zu seiner Arbeit, in seine Baronie. Und ich weiß nicht, wie ich mit dem Mädchen umgehen soll, das so still neben mir am Tisch sitzt, auch wenn sie mir immer wichtiger wird.

Kasimir räuspert sich und bricht somit das Schweigen am Tisch. „Annalies, ich bedaure es wirklich, mich verabschieden zu müssen. Aber ich bin sicher, Orland wird gut für dich sorgen. Vielleicht magst du mir ja schreiben, wie du dich einlebst? Und ich habe fest vor, euch bald wieder besuchen zu kommen, womöglich bringe ich eine meiner Töchter mit. Wie würde dir das gefallen?"

Annalies lächelt schüchtern, aber ich sehe ein Strahlen in ihren Augen, das mir bisher noch nicht aufgefallen ist. Ich runzele die Stirn. Bei näherer Betrachtung scheint es ihr allgemein sehr gut zu gehen. Sie sitzt aufrecht und isst das erste Mal mit gutem Appetit. Dabei hätte ich gedacht, sie würde sich noch mehr in ihr Schneckenhaus zurückziehen angesichts Kasimirs Abreise.

„Das würde mir sehr gefallen, Onkel." Mein Bruder nickt erfreut. Ich überlege fieberhaft, wie ich mich in das Gespräch einklinken kann. Ich möchte ausnutzen, dass meine Nichte bei so guter Laune ist. Schließlich stelle ich einfach die schnöde Frage: „Was hast du eigentlich gestern gemacht? Ich glaube, ich bin dir im Haus nicht über den Weg gelaufen. Warst du im Garten?"

Annalies' Lächeln wird noch breiter. „Ich war in Grara auf dem Markt." Mein Besteck fällt klirrend auf den Teller und Kasimir verschluckt sich an seinem Kaffee. „Du warst WAS?!", bricht es aus mir heraus und meine Nichte zuckt zusammen. „Warst du allein? Wer hat dich begleitet? Und warum habe ich nichts davon gewusst!", schleudere ich ihr Frage für Frage entgegen. „Du kannst doch nicht einfach auf den Markt gehen, ohne Bescheid zu geben! Weißt du, was alles passieren könnte? Die Leute sind uns momentan nicht wohlgesonnen, dir hätte etwas geschehen können!" Voller Grauen denke ich an den Weg über die Felder, den man nach Grara laufen muss. Es ist nicht weit, aber es ist einsam. Hätte sich irgendein Gauner dort herumgetrieben, hätte Annalies sonst etwas passieren können. Und der Marktplatz ist auch nicht gerade sicher angesichts der Wut, die momentan unter den Menschen herrscht. Es ist ein Wunder, dass man ihr nichts getan, sie nicht beleidigt oder beschimpft hat. Zumindest denke ich, dass es ihr gut geht, da sie bis vor Kurzem noch unbefangen gelächelt hat.

Nun ist sie nach meiner Standpauke allerdings wieder in ihr sonstiges scheues Verhaltensmuster zurückgefallen und starrt angestrengt auf ihren Teller.

„Entschuldige, Onkel. Ich wollte nichts falsch machen." Ich seufze. Kasimir hat inzwischen aufgehört zu husten und greift nach Annalies' Hand. „Meine Liebe, du musst auf dich Acht geben. Orland ist nicht böse auf dich, sondern er macht sich Sorgen. Und das tu ich auch. Du hast nun einen hohen Rang als Baroness und es gibt viele schlechte Menschen, die das ausnutzen würden. Manchen reicht es auch, dass du eine junge, wehrlose Frau bist. Du kannst nicht einfach allein über die Felder spazieren und auf dem Markt einkaufen. Du brauchst eine Begleitung, jemand der auf dich aufpasst. Denn wir sind deine Familie und du bist uns wichtig."

Tränen glitzern in den Augen des Mädchens. „Es tut mir leid", sagt sie mit erstickter Stimme. „Ich wusste nicht, dass ich nicht allein gehen darf. Mutter hat es nie interessiert, wo ich war. Ich war so oft alleine spazieren, dass ich gar nicht gedacht habe, dass es falsch sein könnte."

Die GouvernanteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt