Kapitel 42 - Orland

816 71 4
                                    

Die Zeit wird knapp. Und der richtige Zeitpunkt wird nicht kommen. Das merke ich deutlich. Kasimir war so optimistisch, zu sagen, dass hier, am calischen Hof, so nah an Esthers Vergangenheit, der Zeitpunkt kommen würde, an dem ich um ihre Hand anhalten soll. Doch weder mein Bruder noch ich haben vor einer Woche damit gerechnet, dass ich mich hier umgeben von ihrer Familie wiederfinden würde. Der Königsfamilie.
So sehr mich diese Tatsache am Ballabend und auch noch beim Frühstück am Tag danach eingeschüchtert hat, umso mehr habe ich jetzt begriffen, dass diese herzlichen Menschen so gar nicht wie die distanzierten Herrscher sind, die man vielleicht aus geschichtlichen Erzählungen kennt. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass weder die Königin noch der König etwas dagegen hätten, mit mir verschwägert zu sein – so merkwürdig der Gedanke auch ist.
Das eigentliche Hindernis, mit dem ich mein Zögern rechtfertige, ist, dass Esther nicht mehr allein für Annalies und mich da ist. Meine Nichte knüpft neue Kontakte und lebt sich bei Hofe ein und damit hat Esther keine Aufgabe mehr. Sie verbringt viel Zeit mit ihren Schwestern, vor allem mit der Königin, sucht häufig ihren Vater in der Bibliothek auf und ist insgesamt an Orten im Palast unterwegs, die ich nicht kenne.
Und ich gönne es ihr. Es freut mich, dass sie offenbar mit ihrer Familie Frieden schließt, ihre Vergangenheit aufarbeitet und beginnt, die Zeit hier zu genießen. Aber es entfernt sie von mir.
Ich weiß, dass ich nicht ewig die Gastfreundschaft der Königsfamilie strapazieren kann und dass von mir erwartet wird, dass ich nach Annalies' erster Woche irgendwann wieder nach Arex aufbreche. Doch das kann ich nicht, ohne Esther vorher gefragt zu haben.
Die Schatulle mit dem Ring meiner Mutter habe ich gut sichtbar als ständige Erinnerung auf einem kleinen Schränkchen im Salon meines Gästezimmers platziert. Als ob ich für die Frage meines Lebens eine Erinnerung brauchen würde.
Die vergangenen Tage hatte ich genug Zeit, über meine Zukunft nachzugrübeln. Zwar habe ich ab und zu dankbar die Einladung der Königin zu einem Spaziergang oder die des Königs zu einer Rundfahrt durch die Umgebung der Palaststadt angenommen, doch die meiste Zeit bin ich alleine im Park oder in meinen Räumlichkeiten, mit einem Buch aus der Bibliothek, auf das ich mich selten konzentrieren kann.
Mir ist erst richtig bewusst geworden, dass ich womöglich allein nach Arex zurückkehren könnte. Ohne Annalies und ohne Esther. Das Leben allein und zurückgezogen, das ich vor einem Jahr noch zufrieden geführt habe, könnte mich jetzt erneut einholen und unglücklich machen. Ich bin nicht der gleiche Mensch wie damals. Meine Familie hat mich verändert.
Ein Klopfen an der Tür reißt mich aus meinen Gedanken und als ich gehe und sie öffne, steht seit Tagen zum ersten Mal wieder Esther davor. Einen Moment lang schauen wir uns nur schweigend an, dann fragt sie: „Darf ich reinkommen?"
Ich gehe wie gesteuert einen Schritt zu Seite und lasse sie eintreten. „Ich weiß, dass ich mich seit dem Frühstück nicht mehr oft habe blicken lassen", beginnt sie, „aber ich musste mir ein paar Gedanken machen." „Worüber?", frage ich unsicher. Sie beißt sich nervös auf die Lippe. „Über meine Zukunft."
„Möchtest du einen Tee?", unterbreche ich sie und verfluche mich im nächsten Moment schon deswegen. Wie es scheint, ist nun endlich der Moment gekommen, an dem wir zu zweit sind und über die Zukunft reden können.
Sie nickt und ich schenke pflichtschuldig eine Tasse des hoffentlich noch nicht abgekühlten Tees ein, den ein Lakai mir vor kurzem gebracht hat. Esther wandert unterdessen durch den Salon, offenbar zu aufgewühlt, um sich zu setzen.
„Ich schätze, wir beide haben aus den Augen verloren, dass mein Arbeitsvertrag so bald auslaufen würde", fährt sie fort, „nämlich dann, wenn Annalies mich nicht mehr benötigt."
Um etwas zu tun zu haben, beginne ich damit, mir auch einen Tee einzuschenken, den ich eine halbe Stunde lang nicht angerührt habe.
„Ich habe in den vergangenen Tagen viel mit Martha..." Sie bricht mitten im Satz ab. Ich blicke irritiert auf und erstarre. Esther hat die Schatulle mit dem Ring auf dem Schränkchen entdeckt, geöffnet und starrt gebannt und geschockt zugleich darauf.
Ich überlege fieberhaft, was ich sagen könnte, damit dieser Gedanke, den ich seit geraumer Zeit in mir trage, sie nicht auf einmal so überfordert. Doch mir fällt nichts ein. Die Stille zwischen uns dehnt sich aus in eine gefühlte Ewigkeit.
„Orland, was ist das?", fragt sie schließlich und ihre Stimme ist leise. Mein Herz hämmert wie verrückt. Ich weiß, dass ich es nur mir selbst zuzuschreiben habe, dass ich nun so unvorbereitet vor dieser Situation stehe. Ich wollte nicht, dass sie so von meinen Gefühlen erfährt, sondern ich wollte sie vorbereiten, irgendetwas Aufrichtiges, Inniges von mir geben, das ihr keine Wahl lässt. Und doch habe ich durch meine Unsicherheit und Feigheit genau diesen Moment provoziert. Wie lange hätte ich noch gebraucht, mich zu trauen und ihr tatsächlich einen Antrag zu machen? Wäre es noch hier geschehen? Oder hätte ich mich darauf verlassen, dass sie wieder mit nach Arex kommt?
Egal, es bringt jetzt nichts mehr, sich Gedanken darüber zu machen, wie es hätte sein sollen. Sie hat den Ring gefunden und damit ist mein Ansinnen für sie klar. Das einzige, was mich beunruhigt, ist, dass sie so gar nicht glücklich aussieht.
„Das ist der Verlobungsring meiner Mutter", finde ich endlich meine Sprache wieder. „Kasimir hat ihn kürzlich in ihrem Nachlass gefunden und mir vorbeigebracht, ehe wir abreisten." Esther schüttelt den Kopf. „Warum sollte er ihn dir geben?" Ich hole tief Luft. „Weil mein Bruder mich sehr gut kennt. Er hat schon immer gewusst, was ich mir am meisten wünsche."
Esther blickt auf und unsere Blicke treffen sich. Ihre Augen sind groß und ich sehe Unsicherheit und Schmerz darin. „Orland", haucht sie erstickt, „ich hoffe, dass es nicht ist, was ich denke..." Ich halte ihren Blick fest. Sosehr ich auch das Gefühl habe, dass alles in eine falsche Richtung läuft, für mich gibt es kein Zurück mehr. Ich kann nichts mehr leugnen und das will ich auch gar nicht. Esther war so offen zu mir und hat mir ihre Geschichte erzählt, das, was sie am meisten belastet. Jetzt ist es an mir, voll und ganz ehrlich zu sein.
„Doch, liebste Esther", sage ich und mein Herz klopft mir bis zum Hals. „Es ist, was du denkst. Der Ring ist für dich bestimmt. Und mein sehnlichster Wunsch ist, dass du ihn annimmst."
Esthers Lippe fängt an zu zittern und sie lässt die Schatulle mit einem hörbaren Geräusch zuschnappen. „Nein", stammelt sie und Tränen treten in ihre Augen. Ich bin verdattert, weiß nicht, was in ihr vorgeht oder was ich falsch gemacht habe. Auch ich fühle mich auf einmal ganz zittrig.
„Ich bin bereit, alles für dich zu tun", beeile ich mich zu sagen. „Der Ring hat dich überrumpelt, wir reden darüber, ich mache dir einen ordentlichen Antrag...", versuche ich alles, um sie zu beruhigen, doch sie fängt haltlos an zu weinen. Aus einem Impuls heraus überbrücke ich die Distanz zwischen uns und ziehe sie in meine Arme. Anfangs wehrt sie sich dagegen, doch ich lasse sie nicht los, bis sie ihr Gesicht an meiner Schulter vergräbt und sich von mir umarmen lässt.
Ich verstehe die Welt nicht mehr. Dennoch weiß ich, dass dies genau mein Platz ist. Ich will sie auch in Zukunft so halten, sie trösten, wenn sie etwas bedrückt. Egal, ob ich ihr Problem verstehe oder nicht. Ich streiche ihren Rücken auf und ab und habe das Gefühl, noch nie so vertraut und nah bei ihr gewesen zu sein.
Nach einer Weile beruhigt sie sich langsam und ich reiche ihr ein Taschentuch. Sie putzt sich die Nase und als sie mich wieder ansieht, sehe ich immer noch die Traurigkeit in ihren Augen. Aber es ist auch die Entschlossenheit wieder da, die sie stets vor sich herträgt. Mir wird bewusst, dass sie bereit ist, mir ihre Entscheidung mitzuteilen. Und ich hege die Befürchtung, dass es eine Entscheidung ihres Verstandes ist.
„Ich habe eine Stellung hier in Calia angenommen. Ich werde Gouvernante im Haushalt eines Grafen. Martha hat mich dabei unterstützt und sich im königlichen Rat dafür eingesetzt, dass ich in Calia bleiben kann."
Ich schüttele den Kopf. „Das will ich nicht glauben, Esther. Du hättest mit mir darüber reden müssen." Sie blickt zu Boden. „Du irrst dich, Orland. Mein Arbeitsvertrag läuft aus und damit bin ich dir keine Rechenschaft mehr schuldig."
Ich beginne, unruhig auf und ab zu laufen. „Vergiss für einen Moment den Arbeitsvertrag! Der ist vielleicht anfänglich Grundlage unserer Beziehung gewesen, aber er umfasst bei weitem nicht alles, was wir uns jetzt bedeuten. Wir drei – Annalies, du und ich – wir haben gelebt, wie eine Familie. Ich habe dich so nah an mich herangelassen, wie noch niemanden in meinem Leben. Wir haben gestritten wie ein Ehepaar. Auf dieser Grundlage habe ich erwartet, dass du deine Zukunft mit mir besprichst. Esther, du bist ein Teil meines Lebens. Bei weitem der wichtigste. Ich bitte dich, überdenke deine Entscheidung, jetzt, wo ich dir endlich sagen konnte, dass ich dich heiraten will."
„Das kann ich nicht, Orland", ruft sie aufgewühlt. „Du magst denken, dass mein Leben eine normale Bahn nehmen kann, jetzt wo ich hier bin, mein Geheimnis gelüftet ist und scheinbar alles vergessen ist. Aber so einfach ist das nicht. Nichts davon ist vergeben und vergessen. Ich kann meine Vergangenheit nicht einfach beiseiteschieben und die Zukunft so leben, als wäre nichts gewesen. Und ich kann nicht zulassen, dass du ein Teil davon wirst, dass meine Fehler dich einholen und deinen Ruf ruinieren."
Ich schüttele den Kopf. „Niemand weiß in Arex davon, Esther. Und selbst wenn, es wäre mir egal. Ich bitte dich, lass nicht zu, dass deine Vergangenheit über deine Zukunft bestimmt. Und vor allem: Verlasse mich nicht. Ich könnte alles ertragen, außer das."
Sie beißt sich auf die Lippen. „Tut mir leid, Orland. Aber so einfach ist es nicht. Nicht für mich. Ich weiß alles zu schätzen, was du für mich getan hast. Ich bin bei dir so glücklich gewesen, wie noch nie in meinem Leben. Aber jetzt ist die Zeit gekommen, wo ich gehen muss. Und ich muss dich bitten, mich gehen zu lassen."
Einen Moment lang schweigt sie, dann fügt sie sanft hinzu: „Eines Tages wirst du eine andere Frau finden, der du diesen Ring geben willst. Und sie wird ihn mehr verdienen als ich."
Sie platziert die geschlossene Schatulle wieder auf dem Schränkchen und verlässt mit raschelndem Kleid das Zimmer.
Ich flüstere in den nun leeren Raum hinein: „Es wird nie eine andere geben als dich."

Die GouvernanteWhere stories live. Discover now