Kapitel 41 - Esther

888 68 10
                                    

Wir haben kaum den Grünen Salon betreten, da eilt Henna auf mich zu und schließt mich in ihre Arme. Ihr runder Babybauch, der – wie ich feststelle – größer ist, als er auf dem Ball schien, drückt gegen meinen Körper. Meine Augen werden feucht. Ich bin sonst nicht sentimental, doch Henna wiederzusehen, bringt die schönen Momente meiner Vergangenheit wieder in meine Erinnerung. Sie hat in ihrer naiven, liebevollen Art immer an mich geglaubt und selbst während meines Prozesses noch darauf beharrt, dass ich das alles gar nicht so gewollt haben kann.
„Ich freue mich so, dich zu sehen, Esther! Du siehst aus, als würde es dir gut gehen und das freut mich unglaublich. Martha hat vor einigen Tagen angekündigt, dass du kommst und ich konnte es kaum erwarten. Leider ging es mir gestern Abend dann nicht mehr so gut, sonst wären wir uns schon längst begegnet...", sprudelt es aus ihr heraus.
Orland sieht mich fragend an. Ich unterbreche Henna in ihrem Redeschwall durch ein kurzes Räuspern und meine dann: „Ich freue mich auch sehr, dich zu sehen. Aber vielleicht sollte ich euch alle einander vorstellen?" Ich deute auf Orland. „Das ist Baron Orland von Mailinger, mein Patron, bei ihm seine Nichte Baroness Annalies von Mailinger." Ich neige meinen Kopf in Hennas Richtung. „Und dies ist Gräfin Henna von Molda."
Henna schüttelt lachend den Kopf und schließt Annalies und den verdutzten Orland nacheinander in ihre Arme. „Unsinn, nennen Sie mich einfach Henna. Ich bin Esthers Schwester. Und so wie ich das sehe, sind Sie ja nun beide irgendwie Teil unserer Familie, also herzlich willkommen! Baron von Mailinger, darf ich Ihnen vielleicht meinen Mann Moritz vorstellen? Er ist Calias Botschafter und viel im Ausland unterwegs. Ich bin mir sicher, sie können sein Wissen über Arex sehr bereichern."
Gut gelaunt hakt sie sich bei Orland unter und lässt dem Ärmsten keine andere Wahl, als sich mit ihr mitten ins Getümmel zu stürzen. Ich sehe, dass er sich bemüht, gelassen zu bleiben, als er nacheinander dem ehemaligen Prinzregenten Korbinian, dem Botschafter Graf von Molda und König Titus vorgestellt wird.
Annalies zappelt aufgeregt neben mir herum. „Sie haben so eine nette Familie, Fräulein. Und alle sind ganz anders, als ich mir das vorgestellt habe. Königin Martha hat mich gestern ihre Tochter auf dem Arm halten lassen, können Sie sich das vorstellen? Und sie hat angeboten, dass Lanette mir diese Woche das Schloss zeigen kann." Sie sprüht vor Begeisterung und mir wird warm ums Herz.
„Das freut mich, Annalies", erwidere ich. „Ich glaube, dass du hier tatsächlich Hofdame werden wirst, wenn du das gerne möchtest. Ich bin mir auf jeden Fall sicher, dass meine Familie sich gut um dich kümmern wird."
Wir werden unterbrochen von Titus, der die Stimme ein wenig erhoben hat. „Liebe Familie, ich freue mich, dass ihr da seid. Ich würde sagen, es ist Zeit für das Frühstück. Für unsere Gäste vielleicht der Hinweis, dass es keine Sitzordnung gibt, also nehmt Platz, wo ihr wollt."
Annalies hüpft vergnügt in den Raum hinein Richtung Tisch und lässt sich selbstbewusst neben Henna auf einen Stuhl fallen. Das bringt mich zum Lächeln. Wäre ich an ihrer Stelle und würde kaum jemanden kennen, dann hätte ich mir auch Henna ausgesucht.
Mein Vater, den ich bisher gar nicht bemerkt habe, lässt sich an einem Tischende nieder und neben ihm nehmen Korbinian, Orland und Titus ihre Plätze ein. Schließlich bleibt am anderen Ende des Tisches nur noch die Stirnseite zwischen Martha und Moritz von Molda frei.
Sobald ich sitze, werden die Speisen aufgetragen, doch zu meiner Verblüffung stelle ich fest, dass die Diener wieder verschwinden, sobald sie aufgetragen haben, und nun die Schalen mit frischem Gebäck, die Konfitüren, das Rührei, die Pasteten und der Frühstücksbrei vom einen zum anderen weitergereicht werden.
Martha scheint meinen überraschten Blick zu bemerken, denn sie meint schmunzelnd: „Keine Angst, für ein formelles Dinner halten wir selbstverständlich das Protokoll ein. Aber Titus und mir ist die Familie in unserem stressigen, politischen Alltag umso wichtiger geworden und deshalb haben wir das monatliche Frühstück eingeführt. Und wir waren uns einig, dass wir einfach nur unter uns sein möchten. Das gibt uns die Freiheit, über alles Mögliche zu reden. Henna zum Beispiel fragt mich in letzter Zeit sehr viel über meine Schwangerschaft mit Marlene aus."
„Wann ist es denn so weit bei ihr?" Martha überlegt einen Moment. „Zwei Monate hat sie noch, glaube ich. Hat sie dir erzählt, dass es Zwillinge sind?" Ich wende mich überrascht zu Moritz auf meiner anderen Seite. „Zwillinge, wirklich? Meine Gratulation." Er blickt verlegen auf seinen Teller, aber ich sehe, wie er strahlt.
„Es war für uns so eine schöne Überraschung. Also am Anfang musste ich mich natürlich an den Gedanken gewöhnen und habe mich gefragt, ob wir als frisch gebackene Eltern dann gleich mit zwei Kindern alles richtig machen. Aber ich glaube, an Hilfe wird es uns nicht mangeln und wir freuen uns natürlich sehr auf unseren Nachwuchs. Titus hat mich auch für das erste Jahr nach der Geburt von allen Pflichten befreit, die ich nicht wahrnehmen kann."
„Natürlich hat er das", wirft Martha ein. „Das ist doch selbstverständlich. Für ihn als König ist es schwieriger, aber auch er versucht für unsere Tochter da zu sein, so oft er es kann."
Sie wendet sich wieder an mich. „Übrigens mag ich deine Schülerin, Esther. Ich kann sie mir gut bei uns vorstellen. Titus und ich haben das Konzept der Hofdamen ein wenig verändert. Wir wollen intelligenten, fleißigen Mädchen die Möglichkeit geben, sich zu bilden und weiterzuentwickeln. Lanette zum Beispiel ist uns aufgefallen, weil sie für eines unserer Ratsmitglieder den Schriftverkehr geführt hat. Und ich glaube, dass Annalies auch sehr viel Potential mitbringt."
Ich nicke bestätigend. „Das tut sie. Gerade durch ihre Kindheit kann sie es schätzen, eine Chance zu bekommen und ist unglaublich wissbegierig. Ich habe dir geschrieben, weil sie mir sehr am Herzen liegt und weil ich wusste, dass du anders auf sie achtgeben würdest, als die Krone auf uns geachtet hat."
Martha lächelt. „Weißt du, dass sie mir gestern gesagt hat, dass du ein wenig wie die Mutter bist, die sie nie hatte?" Ich bin vollkommen verblüfft. „Das hat sie gesagt?" „Ja. Und sie meinte, Baron von Mailinger und du, ihr wärt genau so, wie sie sich Eltern immer vorgestellt hätte. Streng, aber lieb, dass ihr nicht immer einer Meinung seid und auch streitet, aber immer zusammenhaltet, wenn es darauf ankommt."
Ich spüre, wie ich rot werde und richte meine ganze Aufmerksamkeit auf das Blätterteiggebäck auf meinem Teller.
„Annalies ist dafür, dass sie so eine schreckliche Mutter hat und in katastrophalen Verhältnissen aufgewachsen ist, erstaunlich unverdorben. Aber das heißt auch, dass sie manche Umstände nicht immer ganz realistisch sieht. Ihr muss es nur vernünftig erscheinen, dass zwei erwachsene Menschen, die für die gleiche Person Verantwortung tragen und einigermaßen gut miteinander umgehen können, auch als Paar gut zusammenpassen würden."
Martha neigt nachdenklich ihren Kopf. „Ich sehe die Welt meistens ziemlich realistisch. Und ich kann Annalies trotzdem zustimmen. Ich finde, ihr passt zusammen."
Ich blicke mich vorsorglich um, ob jemand unser Gespräch mitbekommt, doch abgesehen von Graf von Molda scheinen alle in rege Gespräche vertieft zu sein.
„Ich mag ihn auf jeden Fall", fährt meine Schwester fort. „Er ist bodenständig und bescheiden, man kann sich gut mit ihm unterhalten und er hat sich gestern, als du deinen kleinen Alkoholrausch hattest, vorbildlich um dich gekümmert. Außerdem merkt man euch beiden an, dass ihr viel miteinander erlebt habt, dass ihr euch blind vertraut und dass ihr einander sehr wichtig seid. Allein, wie er dich ansieht, zeigt deutlich, dass du ihm viel bedeutest. Das sind wunderbare Voraussetzungen für eine Beziehung."
Ich schüttele peinlich berührt den Kopf. „Martha, ich weiß, dass hier alle in diese Richtung denken. Henna hat ihn in ihrem Überschwang umarmt und in der Familie willkommen geheißen. Aber ich stehe bei ihm in Diensten. Er ist mein Patron, und das auch nicht mehr für allzu lange."
Meine kleine Schwester trinkt nachdenklich einen Schluck Tee und meint schließlich: „Wenn du dich erinnerst, war es für mich auch sehr schwer, zu begreifen, dass ich diejenige war, die Titus wollte. Ich habe mich nicht gut genug gefühlt für ihn. Und du bist diejenige gewesen, die versucht hat, mir zu sagen, dass ich mich womöglich kleiner mache, als ich bin. Du hast gewusst, dass wir füreinander bestimmt sind. Und genauso weiß ich jetzt, dass ihr beiden zusammen gehört. Ich weiß nicht, warum du dich so dagegen wehrst. Er besitzt eine kleine Baronie, das ist der perfekte Ort für dich, um glücklich zu werden. Es ist nicht so wie bei mir, dass mich meine Heirat an die Spitze eines Königreiches setzt. Und das sollte es für dich eigentlich einfacher machen."
Ich ziehe meine Stirn in Falten. „Denk nicht, dass ich vergessen hätte, was ich falsch gemacht habe. Dieser Ort erinnert mich besonders schmerzlich daran, obwohl sich hier alle redlich bemühen, es zu vertuschen. Ich werde doch immer eine Ausgestoßene sein. Ihr habt mir die Chance auf ein neues Leben gegeben, ja, aber habe ich wirklich die Chance auf eine Ehe im adligen Kreis? Außerdem, was würden die Leute in seiner Baronie denken, wenn er die Erzieherin seines Mündels heiratet, kaum dass Annalies irgendwo anders untergebracht ist? Wer würde mich ernst nehmen als Patronin der Baronie? Wer würde mich achten und meinen Stand anerkennen? Wer würde mir nicht vorwerfen, dass ich mir die Heirat auf irgendeine Weise erschlichen habe, weil es für Orland gerade keine besseren Alternativen gibt? Und wenn meine Vergangenheit ans Licht käme, wäre das für seine Position fatal. Ihr habt euch in den Kopf gesetzt, mich glücklich zu sehen, aber so funktioniert das Leben nicht mehr für mich."
„Weiß er über deine Vergangenheit Bescheid?", fragt Martha. Ich nicke. „Bis ins letzte Detail. Seit heute Morgen." Meine Schwester lächelt. „Und doch sieht er dich nicht anders an als gestern. Ich glaube, Esther, dass die Menschen getrost denken können, was sie wollen. Aber dein Baron von Mailinger kennt keine Alternative. Und er will auch keine. Manchmal muss man einfach den Mut aufbringen, sich auf etwas einzulassen. Sieh dir meine Ehe an oder Theodoras. Weder sie noch ich hätten gedacht, dass wir je in solch brisante Kreise einheiraten würden. Und doch füllt jede von uns ihren Platz so aus, wie es sein sollte. Versage dir nicht das Glück, das sich direkt vor dir auftut. Du wirst es bereuen. Und zwar mehr noch als deine anderen Fehler."
„Du magst Königin sein, aber bilde dir nicht ein, zu wissen, was mich glücklich macht", erwidere ich unwillig. „Ich bin in letzter Zeit glücklich gewesen, aber das lag daran, dass ich eine Aufgabe hatte, in der ich gut war. Und auch, wenn es für mich eine Herausforderung bedeutet, mich wieder neu auszurichten, habe ich in den letzten Tagen beschlossen, mir eine weitere Stelle als Gouvernante zu suchen. Darin habe ich einen Vertrag, feste Regeln, etwas, woran ich mich ausrichten kann. Und du weißt, dass ich das in meinem Leben brauche. Die Sicherheit, zu wissen, was ich tun soll. Ich war noch nie gut darin, instinktiv das Richtige zu tun, so wie du, oder mich in jeder Situation wohlzufühlen, wie Henna. Meine Gedanken an die Zukunft müssen Sinn ergeben. Und Sinn ergibt für mich eine Arbeit, die sich bewährt hat, in der ich gut bin."
Martha beißt kommentarlos von ihrem Brötchen ab, kaut und schluckt und bemerkt schließlich: „Mir juckt es in den Fingern, alles so zu regeln, wie ich es für richtig halte. Aber diese Entscheidung kann ich nicht für dich treffen. Also akzeptiere ich, was du für das Beste hältst und biete dir meine Hilfe an. Wenn du willst, suche ich nach einer neuen Anstellung für dich."
„Hier in Calia?", hake ich nach. Sie nickt. „Mit der Verbannung wollten wir dir die Möglichkeit geben, ein neues Leben anzufangen. Und das hast du geschafft. Ich habe nichts dagegen, dich in Calia zu haben und werde, wenn du meine Hilfe annimmst, deinen Fall vor dem Rat besprechen."
Ich atme tief durch. „Das wäre... das wäre wunderbar." Sie lächelt. „Ich würde es genießen, zu wissen, wo du dich aufhältst. Dich in der Nähe zu haben. Ich habe dich vermisst, Esther."

Die GouvernanteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt