Kapitel 16

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Das Gebrumm von hunderten Stimmen erfüllte das Zelt, als wäre es ein Bienenstock. Das erste, was mich traf war der Geruch von gebratenem Hähnchen. Meine Wölfin verlangte nach dem Essen, doch das war nicht, was meine Aufmerksamkeit für sich gewonnen hatte.

Eine lange Schlange stand vor Edgar, der Briefe aushändigte. Die Soldaten rissen sie auf und verschlangen ihren Inhalt schneller als Luke je gegessen hatte. Er und Roan standen weit vorne in der Schlange. Zum ersten Mal seit Beginn war die Atmosphäre leicht und beschwingt.

Mein Herz zog sich zusammen.

Meine Eltern wussten nicht, dass ich hier war.

„Ich hole uns schonmal etwas zu Essen", sagte ich zu Ulf und tauchte aus der Reihe. Die Kruste der Hähnchen glänzte goldbraun und der Duft von Salz und anderen Gewürzen umnebelte mich. Ich holte vier Teller und setzte sie an unseren Tisch, gerade als Roan und Luke herkamen.

„Was machst du hier Zwerg? Geh dir deine Post abholen", sagte Roan und ließ sich auf die Bank fallen. „Keine Sorge, ich werde aufpassen, dass die Nervensäge euch nichts vom Teller stiehlt."

Ein schwaches Lächeln berührte meinen Mund und ich machte mich auf zurück zu Ulf, der beinahe ganz vorne stand. Edgar saß auf einem Stuhl, vor ihm die Kiste mit Briefen, die schon fast gelehrt war.

„Nachname?", fragte er, ohne auch nur aufzublicken.

„Dohn", sagte Ulf und sah zu, wie Edgar einen der Letzten herausfischte. Der Umschlag war dick, wahrscheinlich mit Alices Zeichnungen.

„Nachname?"

„Eschwald", flüsterte ich und Edgar begann die restliche Post nach dem Namen abzusuchen. Er blickte auf.

„Tut mir leid Eschwald, für dich ist nichts angekommen."

Ich nickte und schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter. Wieso hatte ich nur Hoffnung gehabt? Sie konnten gar nicht wissen, dass ich hier war. Ulf legte mir eine Hand auf die Schulter und wir gingen zurück zu unseren Plätzen. Wir ließen uns in die Bank fallen und ich starrte auf den Teller vor mir.

Immerhin hatte ich ein warmes Abendessen.

„Was ist los?", fragte Luke, der Kartoffelpüree am Kinn kleben hatte. Ein ungewolltes Lachen entkam meinen Lippen. Er sah aus wie ein kleines Kind im Körper eines erwachsenen Wolfes. Neben ihm lag ein geöffneter Brief. Eine schwungvolle Schreibschrift war in blauer Tinte aufgetragen.

„Von wem ist der?", fragte ich, um von mir abzulenken. Plötzlich wurden seine Wangen rot und er schob den Brief unter den Tisch. Ich begann an meinem Hähnchen zu knabbern.

„Meine Familie natürlich", stotterte Luke. „Hey!"

Der Rohling hatte die Post unter dem Tisch hervorgezogen und musterte den Absender.

„Seine Mutter", sagte er schließlich. „Ist dir deine Mutter etwa peinlich? Meine Mutter hat mir auch geschrieben."

„Gib her", sagte Luke und schnappte den Brief aus Roans Hand. „Wer hat euch denn geschrieben?"

Ulf war bereits vertieft in Alices Bilder, während wir alle aßen. Sie musste mit Wachsmalstiften herumgekritzelt haben. Ich erkannte einen Fluss, ein Haus, einen Wald und drei Gestalten, die auf zittrigen Strichbeinen standen.

„Sie wird immer besser", sagte er.

„Ist das euer Haus?", fragte ich und Ulf nickte.

„Es steht direkt an der Grenze zu Flussklaue, hier. Auf der anderen Seite beginnt ihr Territorium. Zum Schutz leben einige dutzend Soldaten im Dorf."

Die Auserwählte des KriegersWhere stories live. Discover now