~36~ Stille

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Wie war es zu sterben? Tat es weh? Würde es schnell vorbeigehen?

All diese Fragen gingen mir in den wenigen Sekunden des Schusses durch den Kopf. Aber für eine Tatsache dankte ich Gott, dass er mich nicht unter starken Schmerzen hat sterben lassen, denn ich verspürte gar nichts. Kein Ziehen oder stechen. Keinen Schmerz.

Plötzlich war alles so still, dass ich nichts mehr wahrnahm, außer mein schnell pochendes Herz.

Es schlug mir kräftig gegen die Brust.

Ich lebte!

Schlagartig riss ich die Augen auf und stellte fest, noch an derselben Stelle wie vor wenigen Minuten zu stehen. Erleichtert tastete ich meinen unverwundeten Körper ab und bemerkte, dass mich keine Kugel getroffen hatte. Langsam erhob ich meinen Blick, um nach Jonas zu sehen, entdeckte dabei aber meinem Bruder am Boden liegend. Um ihn herum eine Blutlache. Ein Gefühl der Gleichgültigkeit machte sich in mir breit und ich lief mit langsamen Schritten an ihm vorbei. Ich wollte nur noch zu meinem Jungen, der sich am Boden zusammen krümmte und fürchterlich weinte.

Vorsichtig kniete ich mich neben ihm und strich sanft mit meiner Hand über seinen Rücken.
„Es ist vorbei".

Meine beruhigenden Worte zeigten keinen Erfolg, da er sie überhaupt nicht wahrzunehmen schien.
„Bitte, beruhig dich. Ich bin hier!", sprach ich erneut zu ihm und zum ersten Mal regte sich Jonas. Er zuckte vor Schreck zusammen und löste nur zögerlich seine Hände vom Gesicht. Seine verweinten Augen weiteten sich als er mich sah. Sofort schlangen seine Arme um mich und zogen mich dabei in eine feste Umarmung. Eine beinahe schmerzhafte Umarmung.

„Und ich dachte, du wärst tot.", erneut liefen Tränen über seine Wangen. Behutsam strich ich sie mit meinem Daumen weg und schüttelte meinen Kopf.

„Mir geht es gut!"

„Aber wie?", fragte sich Jonas, während ich mich aus der Umarmung löste und in Felix, seine Richtung deutete. Um ihn herum waren Polizisten und Rettungskräfte versammelt, dich ich vorher noch nicht bemerkt hatte.

„Zeitpunkt des Todes: 17:38 Uhr!", sagte einer der Sanitäter und wandte sich seinem Kollegen zu. Mühsam erhob ich mich und lief wenige Schritte auf meinen Bruder zu. Erst ein Polizist brachte mich zum Stehen und verlangte von mir, den Tatort zu verlassen. Ich stimmte ihm zu und verließ zusammen mit Jonas das Hotelzimmer. In der Lobby angekommen, wurden wir getrennt zu den vergangenen Ereignissen befragt und dann schließlich entlassen.

Draußen an der frischen Luft angekommen, atmete ich zum ersten Mal wieder vernünftig durch und genoss die kalte Abendluft.

Mein Bruder war tot.

Die endlos scheinende Hölle hatte sein Ende gefunden.

Und als wäre ich von allen guten Geistern verlassen, fing ich an zu lachen. Zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich atmen, lachen oder weinen, ohne Angst zu haben.

Ich war frei. Endlich.

„Geht es dir gut?", wollte Jonas von mir wissen, der plötzlich direkt neben mir stand und mich musterte.

„Mir könnte es nicht besser gehen, denn wir Leben!", ich drehte mich zu ihm herum und schmiss mich um seinen Hals. Meine Lippen trafen auf die Seine und genoss das unendliche, freie Gefühl in mir.

„Ich liebe dich", gespannt wartete ich auf seine Reaktion, denn oben im Hotelzimmer, als ich glaubte zu sterben, wurde mir bewusst, wie sehr ich ihn wirklich liebte.
„Ich liebe dich, Baby"

Ein Polizist unterbrach unsere Zweisamkeit und führte uns aus der Sperrzone hinaus, wo wir auf Markus trafen. Dieser erklärte uns, dass er aus Angst, die Polizei verständigt hatte, die im richtigen Augenblick in das Hotelzimmer gestürmt kamen. Sie sahen, wie Felix die Waffe auf mich gerichtet hatte und erschossen ihn.

Etwas entfernt konnte ich meine Eltern erkennen, die mich schockiert musterten. Glückselig lief ich mit Jonas zu ihnen herüber und wollte sie in die Arme schließen, als meine Mutter mich aufhielt.

„Mama, Papa?", ich nutzte den Tod meines Bruders, ihres Sohnes, als Ausrede, weshalb sie mich nicht in ihren Armen auffingen.

„Was... Was... ist pa..passiert?", meine Mutter wollte unter Tränen wissen, was geschehen war, weshalb ich in Ruhe begann zu erzählen.

Aus heiterem Himmel, bevor ich zu Ende erzählt hatte, traf mich eine Ohrfeige von meinem Vater. Es war Jonas, der sofort reagierte und sich schützend vor mich positionierte.

„Das ist alles deine Schuld! Du hast unseren Jungen auf dem Gewissen!", sprach meine eigene Mutter zu mir, voller Verachtung.

„Wissen Sie, was Felix mit ihrer Tochter gemacht hat?", mischte sich Jonas bei den Worten meiner Mutter ein.

„Nein, aber sein Verhalten rechtfertigt nicht, was sie ihm angetan hat. Ihretwegen ist er gestorben", es war mein Vater, der diese Worte von sich gab, welche ich nicht mehr verstand. Das Rauschen meiner Ohren war zu laut geworden.

Jahrelang befand ich mich in meiner persönlichen Hölle, hatte es zum Schutz meiner Familie für mich behalten und was war der Dank dafür? Es war ihnen Egal. Sie vergötterten meinen Bruder.
„Ihr seid für mich gestorben!"

Ich drehte mich um und ging ohne zurückzuschauen vom Parkplatz. Beim Auto angekommen, fuhren wir zum nächsten Imbiss, aßen zu Abend und telefonierten mit der Maklerin. Sie stimmte zu, dass wir noch heute einziehen könnten und somit fuhren wir im Anschluss zu unserem neuen zu Hause.

Eine heiße Dusche und einen Film später suchte Jonas das Gespräch zu mir. Nervös, wie ich es selten erlebt hatte, nahm er meine Hände in seine.
„Bevor wir jetzt in ein komplett neues Leben starten, möchte ich ehrlich zu dir sein."

„Damals auf dem Markt, weißt du noch? Ich hatte angefangen von meinem Bruder und Vater zu erzählen.", ich nickte.

„Als die Alkoholsucht meines Vaters zu nahm, begann er und mein Bruder auch Drohen zu nehmen. Sie begannen Einbrüche oder hatten Autos geklaut, damit sie Geld für ihre Sucht hatten. Ich habe mich so gut es geht rausgehalten, aber natürlich wollten sie, dass wir das als Familie machten, also nahm ich zum ersten Mal Drogen!"

Jonas machte eine kurze Pause und atmete tief durch.

„Es war ein tolles Gefühl. Einfach unbeschreiblich. Ein paar Tage danach war mein 16. Geburtstag und ich schmiss eine Hausparty, selbstverständlich mit dem Mädchen in das ich verliebt war. Ohne es bemerkt zu haben, hatte mein Bruder es ebenfalls auf sie angesehen. Er gab mir ohne meines Wissens ein Getränk mit Drogen für sie, welches ich ihr gab. Ehe ich mich versah, missbrauchte mein Bruder sie auf meiner Geburtstagsfeier. Mein Vater wusste von alldem, bestärkte ihn in sein Vorhaben. Erst da erkannte ich, dass ihnen alles egal war, bis auf ihre Drogen. Ich rief die Polizei und beendete die Sache indem sie ins Gefängnis kamen"
Eine kurzzeitige Stille herrschte zwischen uns, in der so viel Liebe und Ehrlichkeit ausgestrahlt wurde.

„Nach allem, was du durchgemacht hast, verdienst du die Wahrheit."

„Ich danke dir für dein Vertrauen", ich küsste den bedrückten Jungen vor mir, was ein Feuerwerk der Gefühle in mir auslöste. Endlich hatten wir unsere Altlasten abgelegt und konnten nun ein neues Leben beginnen.

„Ich liebe dich sehr", Jonas unterbrach unseren leidenschaftlichen Kuss.

„Ich liebe dich. Für immer."

„Küss mich, Baby"Where stories live. Discover now