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Noah

Eine Woche später klopft es an meiner Tür. Schwere Schritte stapfen dorthin und öffnen sie. Ich kann gar nicht glauben, dass meine Schritte sich so schwer anhören, wenn sie doch mal federleicht klangen. Ich öffne die Tür und schlage sie direkt wieder zu. Ich kann ihr schwarzes Haar jetzt nicht sehen wenn ich wünschte, ich dürfte hindurchfahren. Ich kann ihre blauen traurigen Augen jetzt nicht sehen, wenn ich wünschte, ich würde sie zum Lachen bringen. Ich kann sie jetzt nicht sehen, wenn ich sie immer noch liebe. Ein weiteres Klopfen und dann hört es nicht mehr auf. Sie klopft im Dauertakt. Stur, feurig, so ist sie auf ihre stille Art und Weise.

Ich öffne die Tür. Mein Zimmer ist schwarz und es riecht nach Schlaf. Sie packt mich an den Händen und zieht mich durch die Gänge nach draußen. Es ist noch früh am Morgen und die Sonne geht gerade auf, als wir die Kontrolleure passieren und in den perlweißen Park hinausstapfen. Die Sonne färbt ihre Haare in eine dunkelrote Seide. Sie sagt kein Wort, keine Silbe, nur ihr warmer Händedruck spricht Bände. Nur ihre göttlichen Hände halten mich hier, veranlassen mich zu bleiben. Bei ihr zu bleiben.

„Holly, ich-ich weiß nicht was zum Teufel das soll, was machst du" und dann küsst sie mich. Ihre Lippen treffen auf meine und ich stöhne vor Verlangen. Das hier ist kostbar. Wie konnte ich jemals nicht wissen, was sie für mich ist? Die Zeit ohne sie- Wie habe ich das nur ausgehalten, ohne an dem erdrückenden Gefühl von Leere zu sterben? „Holly, du bist für mich das pure Leben" seufze ich zwischen zwei Küssen. „Und du Noah, du bist für mich die leuchtende Hoffnung am Ende des Tunnels."

Ich küsse ihren Hals, als ihr Schal ein Stück zur Seite rutscht. Einmal in meinem Leben lasse ich wirklich mein Herz sprechen. Es ist wahr. Sie ist das pure Leben. Ich verdanke ihr die Freuden des Lebens. Meines Lebens. Sie weiß gar nicht wie viel Macht sie über mich hat, wenn ihre Augen beginnen zu leuchten und wenn das einzige, was sie sagen kann, mein Name ist.

Also sage ich „Holly" in der stillen Hoffnung, dass sie dasselbe fühlt wie ich, wenn sie ihren Namen aus meinem Mund hört. „Noah" flüstert sie zurück und dann nach einer Ewigkeit lösen wir uns voneinander. Der Winter fühlt sich warm an, als sie meine Hand einfach nur hält und mich nur ansieht mit diesen warmen blauen Augen. Ihr tut unser letztes Treffen leid und mir auch. Ich weiß es. Sie sieht es in meinen Augen und ich in ihren. Es fühlt sich unbeschreiblich an wieder lieben zu können.

„Erzähl mir deine Geschichte" fordert sie, als wir uns auf eine wahllose Bank gesetzt haben. Ich versuche mich zu entspannen, während sie meine Hand nimmt und sie einfach nur hält. Festhält.

„Ich war neunzehn, ein dummer junger Teenager." Neunzehn, mich schmerzt diese Zahl. Ich dachte mein Leben würde Schwung bekommen, glücklicher werden, wenn ich nicht mehr neunzehn wäre, doch zwanzig fühlte sich nicht anders an. Am Ende waren Geburtstage doch alle nur gleich. Sie bewirkten kein neues Gefühl und es war Wunschdenken zu hoffen ein neues Lebensjahr wäre zugleich ein Neubeginn. Ich war nur nicht mehr neunzehn. Das war der einzige Unterschied.

„Ich war alleine gewesen mit meiner Schwester damals. Ich sollte auf sie aufpassen. Meine Eltern waren nicht da."

Und verdammt ich hatte ihr erlaubt rauszugehen. Verdammt ich hatte ihr erlaubt draußen Inliner zu fahren. Und verdammt, alles wäre gut gegangen, wenn da nicht dieser Irre durch unsere Straße gekommen wäre und jeden erschossen hätte, der in seinem Weg stand. Und verdammt, sie stand in seinem Weg und ich habe davon nichts mitbekommen, weil ich gerade Videospiele mit hoher Lautstärke spielte. Ballerspiele. Und verdammt, dann wollte ich sie reinrufen, doch verdammt, sie lag schon da. Ihr kleiner toter Körper auf offener Straße und ich kann nichts mehr tun. Sie war einfach weg. Tot und ich war schuld.

All das erzähle ich ihr, nur ohne das verdammt.

Wir gucken uns lange in die Augen. Da ist kein Mitleid, kein Ekel, nur Neugier und Schock zugleich. Ihre Hand bleibt in meiner.

„Und wie haben deine Eltern reagiert?" fragt sie, nachdem meine Hand sich in ihrer entspannt.

Die Tränen in meinen grünen Augen sammeln sich, werden größer, wachsen zu einem Berg an. Ein Berg aus Stein. Gefühllosigkeit, die aus mir weicht.

„Meine Eltern? Sie haben mir vergeben." Aber das stimmte nicht. Nicht ganz. Natürlich hatten sie etliche meiner Entschuldigungen angenommen. Natürlich hatten sie mir gesagt, es wäre nicht meine Schuld gewesen. Aber ich hatte es in ihren Augen gesehen. Die stille Wut. Unausgesprochene Worte, die nicht einmal geflüstert wurden, weil ich schließlich genauso sehr trauerte wie sie und weil sie wussten, dass ich mir selbst die Schuld für alles gab.

Worte flüstern, Taten sprechen, Blicke schreien. Das lernte ich damals. Früher hatte ich die Welt verdreht gesehen und Worte schrien, jetzt schmerzen nur noch Blicke. Manchmal wünsche ich mir, ich würde einfach erblinden, aber meine Augen bleiben auf. Ich bin noch wach.

Holly ist die erste Person, die mir meine Augen aufhält, denn ihre Blicke passen zu ihren Worten und ihre Worte zu ihren Taten. Holly ist so wahr, dass ich nicht anders kann als ihr zu vertrauen. Die letzte wahre Person, der Holly sich von Tag zu Tag annähert, ist meine Schwester gewesen.

Der Rest der Welt misstraut mir und ich misstraue ihnen. Da ist kein Vertrauen mehr zwischen mir und meinen Eltern seit ihrem Tod. Doch Holly, Holly vertraue ich.

„Das ist nur die halbe Wahrheit" Sie liest mich wie ein offenes Buch.

„Ich sehe Wut in den Blicken meiner Eltern, wenn ich ihnen begegne. Ihre Worte vereinen sich nicht mit ihren Blicken." erläutere ich meinen Gedankengang. Ich sage nicht viel, wenn etwas der Wahrheit entspricht.

Es fängt an zu regnen. Unsere Lippen sind durchnässt als sie aufeinandertreffen. Klischeehaft atemberaubend.

Unsere Zungen führen einen Tanz auf und ich vergesse alles um mich herum. Sie sagt nichts. Wir verstehen uns ohne Worte.

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