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❄︎𝗛𝗼𝗹𝗹𝘆❄︎

Ich sitze noch lange auf dem Boden und denke über das soeben gehörte nach. Was Noah Young wohl zum Suizidversuch gebracht hat? Wie er sich wohl gefühlt haben musste, als er aufwachte, nur um festzustellen immer noch am Leben zu sein? Ob er meine Gefühle wohl teilt? Ob er den Tod auch als Befreiung sieht?

Ein Klingeln ertönt und ich werde jäh aus meinen Gedanken gerissen. Ich werfe einen Blick auf meinen Stundenplan. Ich habe nun Gruppentherapie mit Mr Harson. Suchend schaue ich auf die Raumnummer. 365 steht auf dem Zettel. 365 wie das Nummernschild durchzuckt mich ein plötzlicher Gedanke, doch schnell verwerfen ich ihn wieder. Ich habe bessere Dinge zu tun, wie zum Beispiel noch pünktlich zur Stunde zu erscheinen.

Ich irre eine Weile in dem mir noch unbekannten Gebäude umher und finde schließlich die entsprechende Nummer.

《Sie sind zu spät.》begrüßt mein neuer Lehrer oder Therapeut, wie auch immer man ihn nennen mag mich mit einem leicht aggressiven Tonfall. Ich ignoriere ihn gekonnt und gehe zu dem einzig freien Platz im Raum. Das Zimmer besteht aus Einzelpulten mit traurigen Gesichtern. Wie mein Gesicht wohl aussehen mag? Ich entdecke Summer im Raum, die mir aufmunternd zulächelt. Wie kann sie nur lächeln, wenn sie auch Suizidgedanken hat? Oder lächelt sie nur für andere? Lächelt sie nur in der Außenwelt? Lächelt sie auch, wenn sie alleine ist oder verblasst ihr Lächeln dann und weicht diesem traurigen leeren Ausdruck.

《Mrs Evans?Vielleicht haben sie ja etwas dazu zu sagen?》Mr Harson blickt mich auffordernd an. 《Die Antwort auf meine Frage Mrs Evans. Haben sie etwa nicht zugehört?》Er ist offenbar immer noch angepisst, dass ich zu spät gekommen bin. Leer blicke ich ihn an. Ich wünschte ich könnte Wut auf ihn fühlen, doch ich kann es nicht. Mein Ausdruck bleibt weiterhin leer. Wieso kann ich nichts fühlen, wenn ich etwas fühlen will? Wieso kann ich fühlen, wenn ich nichts fühlen will? Wieso kann ich nichts sagen? Wo ist die starke Holly? Wo ist die Holly, die für sich selbst einsteht? Wo ist die wütende Holly von meiner Therapeutin? Der Lehrer scheint sich durch meinen Ausdruck offenbar noch angespornt zu fühlen und fährt fort. 《Na, sprachlos? Kommen sie bitte an die Tafel!》fordert er mich gehässig auf.

Widerstandslos erhebe ich mich und schreite durch den Raum. Schwarze Haarstränen fallen mir ins Gesicht. Stumm wie ein Grab stelle ich mich vor die Tafel und starre in seine zu Schlitzen verengten Augen.

Ach wie leid sie mir doch tun. Mit ihrer Gier immer irgendwen zum Narren zu halten. Mit ihren Aggressionen, mit denen sie eigentlich zum Psychiater gehen müssten. Mit ihrer fehlenden Selbstreflexion. Mit ihrer Überzeugung von sich selbst. Aber sie sind ja der Psychiater.

Mr Harson starrt mich weiterhin an wie eine Schlange eine Maus. Dann setzt er fort《Schreib an die Tafel: Wie viel bin ich wert?》Konzentriert schreibe ich mit und denke dabei über die Antwort nach. Wie viel bin ich wert? Wie viel bin ich wert? Wie viel bin ich verdammt noch einmal wert? 《Und jetzt schreibe die Antwort an die Tafel.》sagt Mr Harson mit einer bedrohlichen Stimme.

Ich überlege kurz. Die Antwort ist da. Sie ist da. Irgendwo in meinem Hinterkopf und sie liegt dort zum Greifen nah. Doch wie kriege ich die Antwort, wenn sie immer wieder wegspringt kurz bevor ich sie erreichen kann?

Und plötzlich kommt mir eine Erkenntnis. Es ist wie als wäre ich nicht ich selbst. Plötzlich bleibt die Antwort stehen und lässt sie mich greifen und lesen. Wie von einer fremden Macht geleitet schreibe ich die fünf unbedeutenden Buchstaben an die Tafel.

Nichts.

Die Antwort lautet nichts.

Ich trete zur Seite, sodass alle mein Ergebnis sehen können. Mr Harson keucht auf. Kam das unerwartet? Liege ich richtig? Die ganze Klasse keucht auf. Summer keucht auf. Sie sieht mich erschrocken an und schüttelt den Kopf. Ein ungutes Gefühl beschleicht mich. Das hätte ich nicht schreiben sollen. Nicht in einer Suizidklinik. Scheiße, einige stimmen mir zu.

Doch sie alle starren mich an. Alle starren mich an, wie als wäre ich schuldig. Und plötzlich bin ich weg.

Starrende Blicke, meine Hände am Lenkrad und diese Beschimpfungen. Diese ihre Köpfe zusammensteckenden Leute und Kinder, die Mörderin rufen. Und das andere Kind, das nicht mehr rufen kann und es nie mehr können wird und seine Eltern. Weinend sitzen sie über den Kind, dem kleinen Kind, dessen Brust aufgehört hat sich zu heben oder senken. Dessen Körper erkaltet. Und ihre starrenden vorwurfsvollen wütenden Blicke, die mich fixieren. Blicke, die mich fragen, warum ich nicht gebremst habe, ohne zu wissen, dass ich mich das auch frage. Und in dem Moment wird mir klar, dass ich ein Kind ermordet habe. In dem Moment dreht sich meine Welt und ich sehe sie anders. So anders. Überall ist Schuld. Soviel Schuld. Die Welt ist schwarz-weiß. Überall um mich herum sind unterschiedlich grau schattierte Menschen, nur ich bin schwarz und der tote Junge weiß. Nur wir sind anders. Nur wir sind nicht grau.

Ich wache in einem weißen Raum auf. Mein Zimmer. Ein Gesicht ist über mir. Verschwommen leuchtet es dort auf. Die Fäden entwirren sich und wickeln sich zu einer Wolle auf. Das Gesicht vor mir wird klarer. Es ist dieselbe Krankenschwester, die mich schon zum Essen begleitet hat. Ihre braunen Augen sehen mich mitleidig an. Ich habe sie nie gefragt, wie sie eigentlich heißt.

《Wie heißen sie eigentlich und was ist passiert? Warum bin ich hier? Die Unterrichtseinheit mit Mr Harson, meine Antwort auf seine Frage und dann nichts. Was ist geschehen?》frage ich. 《Ich bin Mrs May. Du bist ohnmächtig geworden, sodass dein Kopf gegen die Tafel gekracht ist. Du hast GottseiDank nur eine Gehirnerschütterung und einen Bluterguss am Rücken davongetragen. Du bist für die nächste Woche zu absoluter Bettruhe verpflichtet. Offenbar waren die vielen Stunden mit den vielen Menschen zu viel für dich. In den folgenden 2 Wochen nach der Bettruhe wirst du zunächst nur Einzelunterricht haben und nicht beim Essen in der Cafeteria teilnehmen.》Sie gibt mir Zeit die Dinge zu schlucken. Sie gibt meinem verwirrten Gehirn Zeit die Dinge zu verarbeiten. Als ein kurzes Nicken von mir folgt, verlässt sie den Raum.

Ich bin alleine. Eigentlich sollte ich mich über drei Wochen introvertiert sein dürfen freuen, jedoch ist da keine Freude. Stattdessen bin ich traurig Summer nicht sehen zu dürfen.

In der Stille verfolgen mich die Gedanken und als es dunkel wird, werden sie lauter. Soviel lauter und mächtiger. In der Dunkelheit, in der nicht einmal die Kameras Licht einfangen können, taste ich mich unbeobachtet zur mir gegenüberliegenden Wand, doch verdammt der Bewegungsmelder geht an und spendet den Kameras Licht. Verdammt ich kann mir nicht wehtun. Verdammt ich kann mich nicht bestrafen. Verdammt, die Ärzte können sehen, was ich tue. Verdammt, wieso ist verdammt mein Lieblingswort? Vermutlich weil ich verdammt bin.

Ich bin verdammt.

How to liveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt