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❄︎𝗛𝗼𝗹𝗹𝘆❄︎

Dear Diary,
Eigentlich sollte ich dir einen Namen geben, doch leider fällt mir im Moment keiner ein, weshalb ich es zunächst bei Diary belassen werde. Ich heiße übrigens Holly Evans, bin 19 Jahre alt und habe zurecht einen Suizidversuch begangen. Doch dann wurde ich von irgendeinem Idioten aus dem Eis gerettet und jetzt bin ich leider immer noch am Leben in einer Psychoanstalt. Ich denke, das beschreibt mein jetziges Leben ganz gut.
Ich glaube, ich werde dich hassen. Ich will dich eigentlich nicht benutzen, doch ich muss. Leider wurde ich von dieser Psychoanstalt gezwungen. Also nun ja, das hier ist mein erster Eintrag und ich habe eigentlich keine Ahnung davon, wie man ein Tagebuch schreibt und ich denke, ich lege einfach los.
Ich fühle mich leer. So leer, wie das große Nichts. So leer, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Doch manchmal gibt es diese kleinen Momente, die ich nicht verdient habe. In manchen Augenblicken will ich einfach unbeschwert lachen, doch es geht nicht. Etwas hält mich davon ab und ich liebe und hasse dieses Etwas gleichzeitig. Denn ich will lachen. Ich will wieder glücklich sein, ja. Doch ich habe es nicht verdient. Nicht nachdem, was ich angerichtet habe. Doch über meine Vergangenheit erzähle ich dir ein anderes Mal, denn dafür hasse ich dich noch zu sehr.
Yours Holly.

Ich lese mir den Text noch einmal durch. Es ist nicht viel. Er füllt gerade mal 1 1/2 Seiten in dem DINA5 Büchlein. Doch gleichzeitig ist er auch besonders und kostbar. Es ist mein erster Tagebucheintrag. Ich, Holly Evans, schreibe Tagebuch. Nie hätte ich das für möglich gehalten. Ich habe mich immer gefragt, wie andere Menschen das durchhalten, jeden Tag etwas über ihr Leben zu schreiben. Irgendwann würde dies doch voll langweilig werden, habe ich immer gedacht. Doch jetzt sitze ich hier und schreibe tatsächlich Tagebuch.

Ich schaue nach draußen. Ein goldenes Licht scheint durch mein Fenster. Die Sonne geht unter. Eine lange Zeit sitze ich da. Beobachte, wie die Strahlen der Sonne über mein Gesicht wandern, spüre ihre schwindende Wärme mit dem Wissen, dass die Sonne mich nicht auftauen wird.

Menschen gehen an dem Gebäude vorbei, während der Himmel sich von orange zu tiefblau verfärbt. Sie alle zittern an diesem kalten Dezemberabend. Ich fasse an die Heizung. Die Heizung ist warm und dennoch kann sie mich nicht erwärmen. Denn ich bin kalt. Ich bin ein Eisklotz und nichts und niemand kann mich erhitzen. Ich friere den ganzen Tag ohne zu zittern. Mir ist kalt. So kalt, dass ich draußen keinen Unterschied merken würde. Diese Kälte zermürbt mich und friert meine Gefühle ein, sodass dort nur noch diese kalte Leere übrig bleibt. Dieses schwarze Loch, in dem ich jeden Tag ein Stück mehr versinke. Und niemand kann mich aus diesem Loch ziehen. Niemand will mich dort rausholen, denn ich bin eine Mörderin und ich habe es verdammt noch einmal nicht verdient, dem Loch zu entkommen.

Ich nehme meine Hände von der Heizung weg. Die Nacht ist tiefschwarz. Der helle Mond scheint durch mein Fenster. Die Sterne werden von der Lichtverschmutzung verdrängt.

Ich schrecke hoch. Es hat geklopft. Ich öffne die Tür. Mrs May steht da mit einem Tablet voller Essen in der Hand. Sie stellt es vorsichtig vor mir ab und setzt sich dann zu mir.

Ich nehme das Essen entgegen und verschlinge ein Brot nach dem Anderen. Ich habe Hunger. Wirklich viel Hunger. Mein Magen hat Hunger, ohne zu knurren.
Ich muss dieses leere Loch in meinem Magen füllen. Doch die Wahrheit ist, dass es nicht voller wird, denn es besteht aus einem großen Nichts und das Nichts kennt kein Ende. Ich habe den ganzen Tag Hunger und kein Essen kann ihn stillen. Denn mein Magen verlangt nicht nach Essen, er verlangt nach etwas viel Größerem, das ich ihm nicht geben kann. Das Loch braucht Freude und Hoffnung. Erst dann verschwindet es. Doch ich kann seinen Hunger nicht stillen. Also hungere ich weiter, ohne meinen Magen einen Laut von sich geben zu lassen.

Mrs May nimmt mich in den Arm. Wie eine Mutter ihr Kind und fragt mich, ob alles okay wäre. Ich nicke, doch innerlich schüttele ich den Kopf. Und ein Teil in meinem Kopf, der egoistische Part von mir will Nein schreien. Wie ich diesen Teil doch hasse. Doch er wird besiegt von dem schuldbewussten Teil, der mir sagt, ich hätte ihre Umarmung nicht verdient. Ich schenke diesem Part Glauben, denn er lässt mich leiden.

Die Krankenschwester gibt auf. Sie fängt an mir über ihre Kinder zu erzählen, versucht mich abzulenken. Doch sie schafft es nicht. Ich höre ihr gar nicht richtig zu sondern versinke nur erneut in einem Gedankenstrudel.

Irgendwann geht Mrs May. Irgendwann geht das Licht automatisch aus. Irgendwann ist Schlafenszeit und ich begebe mich zu meinem Bett. Ich bin müde, so unendlich müde, doch ich will nicht einschlafen. Ich werde in ein paar Stunden so oder so schweißgebadet aufwachen. Ich möchte nicht schon wieder träumen. Nicht von dem Unfall und nicht von dem Mobbing. Ich möchte es einfach nicht. Also bleibe ich noch eine Weile wach, schlafe mit offenen Augen, bis meine Augen sich letztendlich schließen und ich hasse mich dafür.

Ich befinde mich auf einer Wiese. Einer saftig grünen Wiese. Vögel zwitschern, Bienen summen und Grillen zirpen. Die Blumen verströmen einen wunderbaren Geruch. Alles ist so wundervoll hier. So traumhaft. Ich atme ein und aus. Die Luft riecht angenehm frisch. Für einen kurzen Augenblick bin ich glücklich. Glücklicher als je zuvor. Bis dort ein Junge auftaucht. Er ist einfach da, ganz plötzlich. Ich schaue ihn an und will schreien. Es ist der Junge, den ich überfahren habe, nur in unversehrt. Mit kleinen leichten Schritten tappt er auf mich zu. Er kann nicht älter als fünf sein. Ich weine《Es tut mir so leid. So unglaublich leid. Ich hätte dich nicht übersehen dürfen und ich leide jeden Tag dafür. Es tut mir so so leid und es gibt eigentlich keine Worte, die so etwas wieder gut machen können.》schluchze ich unter Tränen. Er schlägt mir ins Gesicht. Erschrocken schaue ich auf. Ich will wütend sein, doch er hat jedes Recht darauf mich zu schlagen. Er darf mir wehtun. 《Weißt du eigentlich wie es ist tot zu sein? Jeden Tag zu leiden? Sich jeden Tag zu fragen, was passiert wäre, wenn ich nicht überfahren worden wäre? Wenn das bescheuerte Mädchen mich gesehen hätte? Ich war erst fünf Jahre alt. Ich hatte noch 80 weitere Jahre vor mir! Ich habe nicht einmal die Chance gehabt zu leben! Du hast Recht, du wertloses Ding. Du solltest sterben. Du solltest jeden Tag, für das, was du mir getan hast, leiden!》schreit er mich an und tritt mich auf eine Plattform. Dann hebt er eine Hand und die Plattform wird mir unter den Füßen weggezogen und ich falle. Ich falle wieder in diese endlose kalte Leere. Der Junge hat jedes Recht dazu mir den Boden unter den Füßen wegzuziehen, weil ich ihn überfahren habe. Ich Miststück. Er hat jedes Recht.

Ich wache auf. Dunkelheit umgibt mich. Es war nur ein Traum. Es war nicht real. Die Dunkelheit macht mich schläfrig und ich falle in den nächsten Traum.

How to liveWhere stories live. Discover now